«Ich habe noch Kopfschmerzen und meine Hände tun weh»
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Leo (11) 20 Monate nach Unfall:«Ich habe noch Kopfschmerzen und meine Hände tun weh»

Leo (11) fiel beim Schulzmittag in Laufenburg AG aus dem Fenster – und wurde schwer verletzt
Gericht spricht Aufsichtsperson frei

Leo (11) hatte alles Glück dieser Welt. Nachdem er nach dem Schulzmittag aus dem Fenster gestürzt war, lag er im Koma und war in Lebensgefahr. Doch er überlebte – und muss dennoch heute noch mit den Folgen kämpfen. Das Gericht sprach die Aufsichtsperson nun frei.
Publiziert: 07.06.2022 um 16:51 Uhr
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Aktualisiert: 07.06.2022 um 21:38 Uhr
September 2020: Während des Mittagstisch in der Primarschule in Laufenburg AG soll ein Fenster offen gewesen sein. Drittklässler Leo (damals 9) stürzt in die Tiefe. Er landet schwerverletzt auf dem Boden. Hier liegt er nach dem Unfall im Basler Kinderspital.
Foto: Zvg
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Ralph Donghi

Am 7. Juni 2022 stand in Laufenburg AG eine Aufsichtsperson (52) vor Gericht. Der Grund: Sie soll am 14. September 2020 die Fürsorge- oder Erziehungspflicht verletzt haben. Dies, weil sie für die Aufsicht des Mittagstisches im Burgmattschulhaus in Laufenburg AG zuständig war und dennoch den Raum verlassen haben soll. Daraufhin stürzte der damals 9-jährige Leo beim Spielen aus dem Fenster im ersten Stock, das offen gewesen sein soll – und verletzte sich schwer.

Die Aufsichtsperson wurde am 18. Januar 2022 mit einem Strafbefehl verurteilt – nebst dem Verstoss gegen die Fürsorge- und Erziehungspflicht auch noch wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung. Doch die bedingte Geldstrafe von 2000 Franken und die zu bezahlende Busse von 500 Franken wollte die Aufsichtsperson nicht akzeptieren. Auch nicht die Strafbefehlsgebühr von 800 und die Polizeikosten von 50 Franken. Sie zog das Urteil weiter. Deshalb kam es nun zum Gerichtsprozess.

Beschuldigte sagte vor Gericht nichts

Doch beim Prozess kam bereits am Anfang aus, dass die Beschuldigte weder zu ihrer Person noch zur Sache etwas sagen möchte. Hingegen sorgte ihr Anwalt für eine Überraschung: Er reichte dem Gericht unter anderem noch ein Video ein, auf dem man sehen soll, dass das besagte Fenster von alleine zugehe, wenn man es öffne und wieder loslasse. Will er damit sagen, dass Leo das Fenster selber geöffnet hat? Und dass dies die Ermittler nach dem Unfall selber nie so geprüft hatten?

Der Strafbefehl sagt nur, dass Leo damals mit einem Mädchen im Zimmer verblieben sei und sie mit einer Plüschtier-Giraffe Werfen und Fangen gespielt hätten. Als die Beschuldigte den Raum verlassen haben soll, soll das mittlere Fenster im Zimmer geöffnet gewesen sein. Dies sei aufgrund der Raumarchitektur von der Zimmertüre aus nicht sichtbar gewesen. Gleichzeitig sei Lüften der Bestandteil der damaligen Covid-19-Empfehlungen gewesen.

Laut Strafbefehl hätte sie «Gefahrenquelle beseitigen können»

Während die Beschuldigte im Spielzimmer vis-à-vis Nachschau nach anderen Kindern gehalten habe, sei Leo auf den Fenstersims geklettert, habe sich aufrecht hingestellt, sei dort herumgehüpft, dabei aus dem offenen Fenster knapp fünf Meter in die Tiefe gestürzt und auf den Plattenboden geprallt. Laut Strafbefehl hätte die Aufsichtsperson vor dem Verlassen des Zimmers das geöffnete Fenster bemerken und diese Gefahrenquelle beseitigen können.

Der Anwalt der Opferfamilie verwies vor Gericht auf eben diesen Strafbefehl, der alles sage und dessen Urteil das Gericht folgen solle. Zum Video sagte er, es sei ohne Beweiskraft. Man wisse nicht, warum sich das Fenster auf dem Video bewege.

Anwalt der Beschuldigten plädierte auf Freispruch

Der Anwalt der Beschuldigten konterte in seinem Plädoyer, es sei kein bodentiefes Fenster. Der Fenstersims sei keine begehbare Fläche. Es seien auch schon andere Schüler alleine in diesem Raum gewesen. Er entspreche den gesetzlichen Bestimmungen.

Zudem, so der Anwalt weiter, sei das Fenster geschlossen gewesen, als seine Klientin den Raum verliess – dies habe sie direkt nach dem Unfall ausgesagt. Das eingereichte Video zeige klar, dass das Fenster nicht offen bleibe, sondern sich selber schliesse.

Hinzu komme, dass jeder Drittklässler wisse, dass man nicht auf etwas steige, das vor einem Fenster stehe. Der Unfall sei «wirklich tragisch», sagt der Anwalt. Aber nicht jeder Unfall eines Kindes sei voraussehbar. Er verlangte für die Aufsichtsperson einen Freispruch.

Mutter von Leo forderte «Berufsverbot»

Die Mutter von Leo, die nicht an den Prozess kam und bisher noch keine Zivilforderungen gestellt hat, erzählte kürzlich gegenüber Blick, was ihr Sohn Leo und sie alles durchgemacht hatten. Er sei damals «im Sterben» gelegen, so Marta K.* (33). Sieben Mal habe ihr Sohn operiert werden müssen – er müsse heute noch wegen der Folgen leiden. Für Marta K. stand fest: «Die Aufsichtsperson war sich ihrer Pflicht nicht bewusst. Ich fordere, dass diese Person ein Berufsverbot erhält.»

Leo selbst erzählte im Blick, dass er auf die Fensterbank gestiegen sei, nach hinten geschaut und mit den anderen Kindern geredet habe. «Ich stützte mich mit den Händen an den Fenstern entlang», sagte der Bub. Plötzlich habe er ins Leere gegriffen und sei hinunter gefallen. Nach dem Aufprall auf dem Boden habe er «nur weiss» gesehen, so Leo. «Ich habe nichts gefühlt.» Die Klassenlehrerin von Leo nahm ihn vor Gericht in Schutz: Er sei nicht ein Kind, das man keine Sekunde aus den Augen lassen dürfe.

Das Gericht sprach die Aufsichtsperson schliesslich frei. Es folgte mehrheitlich den Ausführungen des Anwalts der Beschuldigten. Sie habe alleine für elf Schüler schauen müssen, da habe sie natürlich auch zu den anderen Kindern im anderen Zimmer schauen müssen. Zudem habe das Mädchen, das mit Leo gespielt habe, zwar ein offenes Fenster gesehen, aber nicht sagen können, wer es geöffnet hatte und ob es allenfalls Leo war.

Hinzu komme, dass Schüler in diesem Alter schon kompetent im Alltag seien und wissen, dass sie sich unter anderem nicht auf einem Fenstersims aufhalten dürfen. Und: Sie könnten sich durchaus selber beschäftigen. Aus Sicht des Gerichts hat die Beschuldigte keine Sorgfaltspflichtverletzung begangen.

Die Mutter von Leo zeigt sich gegenüber Blick sehr enttäuscht über den Freispruch. «Mein Kind war mal kerngesund, und jetzt folgt noch dieses Urteil», so Marta K. Die Beschuldigte habe widersprüchliche Aussagen gemacht und das Gericht sei infrage zu stellen. «Ich lasse das nicht auf mir sitzen und werde weiterkämpfen», sagt Marta K. «Wenn nötig bis vor Bundesgericht.»

* Name der Redaktion bekannt


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