Landarzt Müller findet keinen Nachfolger
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Ärztemangel in der Schweiz:Landarzt Müller findet keinen Nachfolger

Mangel an Medizinern
Darum findet Hausarzt Marc Müller (66) keinen Nachfolger

Seit zwanzig Jahren spricht man vom Ärztemangel – trotzdem nimmt er kein Ende. Nun macht die Pandemie die Folgen sichtbar. Wir wollten wissen, was los ist. Und machten Hausbesuche: bei einem älteren Hausarzt in Grindelwald BE und einem Berufsaussteiger in St. Gallen.
Publiziert: 11.10.2021 um 01:33 Uhr
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Aktualisiert: 13.10.2021 um 09:11 Uhr
Der 66-jährige Hausarzt Marc Müller aus Grindelwald sagt: «Ich bin einer der am besten vernetzten Ärzte im Land, trotzdem finde ich keinen Nachfolger.» Müller war jahrelang Präsident des Haus- und Kinderärzteverbands (MFE).
Foto: STEFAN BOHRER
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Rebecca Wyss

Eigentlich wollte Marc Müller mit 63 in Pension. Nach einem Arbeitsleben voller 80-Stunden-Wochen. Einfach mal kein Telefon mehr, das abends klingelt. Keine Wochenenden mit Hausbesuchen. Ruhe. Jetzt ist er fast 67 und fährt immer noch jeden Tag in seine Praxis. In sein Behandlungszimmer mit der kleinen Plastik-Wirbelsäule im Regal und dem Schragen, der schon alles Wüste gesehen hat. Hier sagt er: «Alle kennen mich. Ich bin einer der am besten vernetzten Ärzte im Land, trotzdem finde ich keinen Nachfolger.»

Müller war früher Präsident des Haus- und Kinderärzteverbands (MFE). Kämpfte jahrelang dafür, dass sein Berufsstand nicht ausstirbt. Nun trifft ihn genau das als Hausarzt in Grindelwald im Berner Oberland.

Zwei Hausärzte und ihre beiden jungen Assistenzärztinnen gibt es im Dorf. «Das reicht nirgends hin», sagt Müller. Es bräuchte mindestens zwei gestandene Hausärzte mehr. Am Fuss der Eigernordwand leben 4000 Menschen, in der Hochsaison legen sich hier 8000 Touristen schlafen, weitere 8000 staksen auf ihrem Tagesausflug durchs Dorf. Und gerade hat man für happige 470 Millionen eine neue Gondelbahn bauen lassen, die die Leute in 15 Minuten auf den Eigergletscher hieven soll. Noch mehr Volk, noch mehr Unfälle.

Grindelwald ist unterversorgt. So wie die Regionen Frutigen-Niedersimmental, Obersimmental-Saanen, Berner Jura und Biel. Im Kanton Bern klafft eine riesige Lücke in der medizinischen Grundversorgung, fanden kürzlich Berner Forscher heraus. Zwei Drittel der Hausärzte nehmen gar keine neuen Patienten mehr auf. Die Wissenschaftler warnen: In vier Jahren könnten auf einen Hausarzt bis zu 5800 Patienten kommen.

Bern ist keine Insel. Die aktuelle «Work Force»-Studie zur medizinischen Grundversorgung zeigt: Ähnlich prekär sieht es in den Kantonen Solothurn, Freiburg, Jura und Neuenburg aus. 15 Prozent der Arbeit machen Hausärzte über 65, sie können nicht in Pension, obwohl sie wollen. Jede Woche gehen bei der grössten Schweizer Praxiskette Medbase bis zu fünf Anfragen von Hausärzten ein, sie wollen ihre Praxis loswerden. Doch nicht überall lohnt es sich. Und so stehen manche Orte ganz ohne Hausarzt da. Orte wie Leukerbad VS. Im Dezember warben sie mit einem Video über die Medien um Ärzte – nach anderthalb Jahren erfolgloser Suche.

Das ganze Land ist unterversorgt

All das treibt dem obersten Hausarzt Sorgenfalten auf die Stirn. Philippe Luchsinger, Müllers Nachfolger beim MFE, sagt: «Die medizinische Versorgung der Bevölkerung ist nicht mehr sichergestellt.» In den nächsten Jahren brauche die Schweiz zusätzlich zwischen 3000 und 4000 Haus- und Kinderärzte. Was Luchsinger auch betont: Uns fehlen fast in allen Sparten Ärzte, vor allem hiesige. Psychiater, Chirurgen, Gynäkologen und, und, und.

Es ist paradox: Immer mehr Junge wollen Arzt werden, die Uni-Anmeldungen haben sich in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt. Trotzdem haben wir zu wenig. Gleichzeitig steigt der Bedarf: Die Gesellschaft überaltert, immer mehr Patienten haben Mehrfacherkrankungen, sind chronisch krank. Und nun stecken wir auch noch in einer Jahrhundert-Gesundheitskrise. Gerade die Pandemie führt uns allen vor Augen: Nicht fehlende Beatmungsgeräte oder Intensivbetten sind die grössten Probleme der Schweizer Spitäler – sondern die Knappheit von qualifiziertem Personal.

Seit zwanzig Jahren warnen Berufsverbände vor dem Kollaps. Und man fragt sich: Wie konnte uns das passieren? Warum ist der Arzt, der früher neben dem Pfarrer, dem Gemeindeammann, dem Fabrikanten zu den prägenden Figuren eines Dorfes zählte, der als gottähnlich verehrt und himmlisch entlohnt wurde, nun zu einer so raren Gattung geworden?

Wir sprachen mit Ärzteverbänden, älteren und jüngeren Medizinern, die teils nur anonym Auskunft gaben, aus Angst, den Job zu verlieren.

Mit Marc Müller, der sagt: «Als ich anfing, fand man nur mit viel Glück eine Hausarztpraxis, die man übernehmen konnte.»

Mit dem St. Galler Alen Hascic (31), der die Facharztausbildung abbrach und sagt:
«In einem anderen Land wäre aus mir vielleicht ein zufriedener Hausarzt geworden.»

Die Gespräche zeigen: Die Entwicklung von Müller zu Hascic hat sich die Schweiz selbst eingebrockt. Trotz der Nachfrage werden viel zu wenig Ärzte ausgebildet. Und in den Spitälern trägt man jenen, die man hat, zu wenig Sorge.

Zu knausrig bei den Studienplätzen

Hausarzt Müller nimmt seit vielen Jahren immer wieder Assistenzärzte auf, lehrt sie, wie man Löcher im Kopf näht, gebrochene Knochen wieder heil macht – das ABC der Traumatologie. Alle seien begeistert von der Vielfältigkeit der Arbeit, sagt er. «Hier ist ein Hausarzt noch ein Spezialist für alle nur denkbaren Fälle.» Anders als in der Stadtberner Länggasse, wo dieser vor allem zu hohen Blutdruck oder Diabetes behandle. Trotzdem bleibt keiner in Grindelwald. Zum einen wegen des Notfalldienstes. Mindestens zwei Abende pro Woche und ein Wochenende im Monat ist Müller im Einsatz – zusätzlich zu seiner Praxisarbeit. Die Jungen schrecke schon ein Einsatz-Wochenende im Monat ab, sagt er, man suche nun für den Notfalldienst eine überregionale Lösung. Abschreckend ist auch die Lage. Eingekesselt von Bergen, eingebettet in satte Matten – der Ort ist der Prototyp einer Postkartenlandschaft. «Aber», sagt Müller, «entweder fühlt man sich hier beschützt oder bedroht.» Vielen ist der Ort zu abgelegen.

Er selbst überlegte es sich vor 27 Jahren nicht zweimal, ob er die Praxis übernehmen soll – und zog von Bern in die Höhe. Müller gehört zur Babyboomer-Generation. Als diese aus dem Studium kam, überschwemmte sie den Arbeitsmarkt, heisst es. Die alten, abtretenden Hausärzte pickten jene raus, die bereit waren, zum üblichen Preis zusätzlich bis zu 100'000 Franken auf den Tisch zu legen.

Ende der 70er stand man auf die Bremse: mit dem Numerus clausus, der Beschränkung der Studienplatzzahl. Das ging so lange gut, bis in den Nullerjahren der Trend kehrte. Vorerst löste die Personenfreizügigkeit das Problem, man stopfte die Löcher mit Nachschub aus dem Ausland, heute wird die Hälfte der neuen Facharzttitel an Ärzte mit ausländischem Diplom vergeben. Der MFE-Präsident Philippe Luchsinger kritisiert: «Das ist nicht nachhaltig.» Die Herkunftsländer bemerkten die Abwanderung und verbesserten die Bedingungen, deshalb seien schon viele wieder zurückgekehrt, vor allem Deutsche. Luchsinger fordert: «Es braucht mehr Studienplätze.» Rund 500 mehr alleine in der Deutschschweiz. Derzeit gibt es dort etwas mehr als 1100. Zwar hat der Bund in den letzten Jahren Geld gesprochen, mehr Plätze wurden geschaffen, aber es reicht nicht. Alle Kantone müssten mitfinanzieren – doch viele sperren sich.

Die Folgen davon hat nun Corona auf einen Schlag enthüllt: Die Ärztinnen und Ärzte sind erschöpft. Verborgen bleibt ein weiterer Grund für den Mangel: Viele hängen den weissen Kittel an den Nagel. Für immer. Eine Studie des Verbands der Assistenzärzte und Oberärzte (VSAO) und des Ärzteverbands FMH hat 2016 gezeigt: Zwischen neun und 13 Prozent schliessen zwar das Studium ab, steigen aber noch während der Ausbildung zum Facharzt aus – also während der Assistenzarztzeit. Oder einige Jahre danach. Und: Frauen häufiger als Männer.

Tonnenweise Papierkram und viele Überstunden

Alen Hascic wollte Arzt werden, weil er Naturwissenschaften und die Arbeit mit Menschen mag. 2017 begann er als Assistenzarzt auf der Radiologie eines Spitals. Schon zuvor, während seiner Praktikumszeit, merkte er: Mit Patienten haben die meisten Assistenzärzte kaum Kontakt. Sie füllen Anmeldungen für Überweisungen aus, schreiben Berichte, rufen in Hausarztpraxen an, wenn Unterlagen fehlen – Büroarbeit. «Mit einer KV-Lehre wäre man besser auf einen Grossteil der Stationsarbeit vorbereitet als mit einem sechsjährigen Medizinstudium», sagt er. Mehr und mehr fiel ihm auf, wie man die Abläufe effizienter machen, den Papierkram kleiner halten könnte – er aber nichts ausrichten konnte. Das nagte so an ihm, dass er sich an seinen Chef wandte. Das Spital bot ihm dann an, teils als Assistenzarzt auf der Radiologie und teils in der Unternehmensentwicklung zu arbeiten – also genau dort, wo man an der Verbesserung der Prozesse arbeitet. Doch selbst dort stiessen sie an Grenzen. Er merkte: Wenn er wirklich etwas verändern wollte, musste er an die Wurzel des Problems heran – und raus aus dem Beruf. Seit einem Jahr studiert er nun Unternehmensführung an der Universität St. Gallen.

Hascic sagt: «Ich scheue viel Arbeit überhaupt nicht.» Was ihn frustriert: die vielen Überstunden wegen Büroarbeit. «Die Assistenzärzte sind nicht überarbeitet, weil sie Menschen das Leben retten. Sondern weil sie bis tief in die Nacht Berichte schreiben.»

Nadja Grütter, die anders heisst, hörte wegen eines Burn-outs auf. Die 38-Jährige war früher Assistenzärztin auf der Chirurgie. Arbeitsrechtlich dürfen die Ärzte 50 Stunden pro Woche arbeiten – acht mehr als in allen anderen Berufen. Nadja machte in einem Jahr 350 Überstunden, viele davon konnte sie nicht mal kompensieren. «Es kam oft vor, dass wir nach dem Ausstempeln weiterarbeiteten.»

Und Gabriele Kern, auch sie anonymisiert und in den Dreissigern, ist Fachärztin für Innere Medizin auf einem Spital-Notfall. Sie sagt: «Ich mache noch fünf Jahre, dann gehe ich.»
In die Privatwirtschaft. Krankenkassen, Verbände – sie alle locken mit guten Löhnen und flexiblen Arbeitszeiten. Das ist der Punkt. Gabriele Kern hat Kinder, was mit ihrem Job kaum vereinbar ist. Auch wenn sie Teilzeit arbeitet. Jetzt, während der aktuellen Corona-Welle, fallen bis zu zwei Überstunden pro Schicht an. Die Notaufnahme sei oft so voll, dass sie und ihre Kollegen weder ein noch aus wüssten. «Ich habe oft das Gefühl, eine schlechte Medizinerin zu sein.» Weil sie keine Zeit mehr für die Patienten habe. Wegen Corona ziehen in der Pflege nun immer mehr die Reissleine. Kern sagt: «Die Ärzte sind die Nächsten.»

Grütter und Kern sind keine Einzelfälle. Das zeigt eine letztes Jahr durchgeführte Befragung des VSAO. Zwei Drittel mit Vollzeitpensum arbeiten im Schnitt 56 Stunden pro Woche. Beschweren sei ein No-Go, sagen unsere Quellen. Sonst würden Arbeitsverträge nicht verlängert oder man würde nicht mehr für Operationen eingeteilt – ohne die man den Abschluss nicht machen kann. Alles schon passiert.

Für Babyboomer ist es zu spät

Reicht es nun aber, mehr Studienplätze zu schaffen, um die Situation der jungen und älteren Spitalärzte zu verbessern?

Es müsse ein Kulturwandel stattfinden, sagt Alen Hascic. «Das Mindset vieler älterer Chefärzte in den Spitälern ist ein Problem.» Sie arbeiteten bis zu 80 Stunden pro Woche, erwarteten das Gleiche vom Nachwuchs. Doch die Millennials forderten nun vehementer flexible Arbeitsmodelle, mehr Lebensqualität, Zeit für die Familie. «Das verstehen die Älteren aber nicht.»

Die Hausärzte haben schon lange verstanden. Vermehrt setzen sich Gemeinschaftspraxen durch. Auch Marc Müller in Grindelwald und seine Geschäftspartnerin haben 2018 aus der Zweierpraxis ein Gesundheitszentrum gemacht. Die Idee: Raum schaffen für mehr Ärzte, mehr Teilzeitarbeit, mehr Work-Life-Balance. Wegen solcher Modelle ist die Hausarztmedizin unter Studierenden wieder gefragt. 2030 soll sich die Lage in der Grundversorgung entspannen.

Müller kennt die Prognose. Darauf hat er als ehemaliger Ärzte-Präsident lange hingearbeitet. Luftsprünge macht er trotzdem keine. «Für uns Babyboomer ist das zu spät.»

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