«Jedes Zehntel Grad zählt»
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Klimaforscher Reto Knutti:«Jedes Zehntel Grad zählt»

Klimaforscher Reto Knutti und Marie-Claire Graf bangen um Ja zum CO₂-Gesetz
Und wenn es nicht reicht?

Das CO₂-Gesetz droht zu scheitern. Marie-Claire Graf, die «Schweizer Greta», und Spitzen-Klimaforscher Reto Knutti reden mit uns über ihre Angst vor einem Nein.
Publiziert: 06.06.2021 um 12:12 Uhr
Interview: Fabienne Kinzelmann

In einer Woche stimmt die Schweiz über das CO2-Gesetz ab. Die jüngsten Umfragen zeigen einen Nein-Trend. SonntagsBlick trifft den Klimaphysiker Reto Knutti und die Klima-Aktivistin Marie-Claire Graf auf der ETH-Polyterrasse in Zürich, um mit ihnen über die Abstimmung zu sprechen. Es ist, etwas überspitzt gesagt, die Abstimmung ihres Lebens: Er forscht seit 24 Jahren zum Klima, sie brachte Tausende dafür auf die Strasse.

Wie gut schlafen Sie noch?
Marie-Claire Graf: Ich habe Bauchschmerzen. Anfangs dachte ich, wir schaffen locker mehr als 60 Prozent. Bei einer Tippwette habe ich meine Erwartung gerade auf 52 Prozent runterkorrigiert.
Reto Knutti: Ich schlafe gut. Aber es macht mich nachdenklich, dass eine Vorlage, die so extrem breit von allen Parteien unterstützt wird – bis auf die SVP – und hinter der die Wirtschaft steht, keine deutliche, überzeugende Mehrheit bekommt.

In den neusten Umfragen zufolge wird es am 13. Juni extrem knapp. Haben Sie eine Erklärung?
Knutti: Ein widersinniges Argument dominiert: «Es kostet.» Damit kann man fast jede Vorlage killen, weil Herr und Frau Schweizer nichts bezahlen und sich nichts vorschreiben lassen wollen. Obwohl das Gesetz den allermeisten Schweizerinnen und Schweizern direkt nützt. Und uns als Land sowieso.

Marie-Claire Graf und Reto Knutti: Der Status quo kostet viel mehr.
Foto: STEFAN BOHRER
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Sie hatten mir vorab gesagt: Es werde zu viel übers Portemonnaie des Einzelnen geredet, aber eigentlich zu wenig über die Gesamtkosten.
Knutti: Es geht nicht um 200 Franken hier, 400 Franken da. Unser Status quo kostet viel mehr – einfach an einem anderen Ort. Wir zahlen pro Jahr acht Milliarden für den Import von fossilen Energien und wir zahlen für all das, was schiefgeht in der Umwelt: für Extremwetterschäden oder Gesundheitskosten aufgrund schlechter Luftqualität.
Graf: Und zusätzlich zahlen wir für die Anpassungskosten, die sich ja bereits in Milliardenhöhe berechnen lassen – das sagt eine Studie des Bundesrats. Die Kosten werden wir gemeinsam tragen müssen, punktuell sind sie für einzelne Personen höher; gerade in den Schweizer Bergregionen – auf dem Land, wo auch ich herkomme –, die besonders von der Klimakrise betroffen sind. Bauern und Bäuerinnen sind sehr stark von einem stabilen Klima abhängig. Da kommen enorme Kosten auf uns zu und Folgen bis hin zur Wasserknappheit und Ernährungsunsicherheit.
Knutti: Am Ende ist es immer die gleiche Botschaft: Eine ambitionierte Klimapolitik lohnt sich. Und sie lohnt sich nicht nur für den Planeten, sondern auch fürs Portemonnaie und den Einzelnen, der etwas tut.

Sie haben bereits ausgerechnet, was die tatsächlichen Kosten sind.
Knutti: Der Fussabdruck der Schweiz mit importierten Emissionen liegt bei etwa 110 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr. Rechnet man den dadurch entstehenden globalen Schaden über die ganze Zeit ein, kostet das laut Umweltbundesamt etwa 200 Franken pro Tonne. Ein Vier-Personen-Haushalt verursacht heute also einen Schaden von etwa 10’000 Franken im Jahr. Was ist da die Perspektive?
Graf: Der Klimawandel hat aber auch eine soziale Komponente. Die Menschen, die am meisten betroffen sind, werden sich am meisten anpassen müssen, haben aber am wenigsten zur Klimakrise beigetragen. Das müssen wir mitbedenken, wenn wir Lösungen entwickeln und implementieren.

Sie stehen beide mit einem heiss umkämpften Thema stark in der Öffentlichkeit. Wie sehen Sie Ihre Rolle?
Graf: Als Person, die eine so gute Bildung geniessen darf und sich über die enormen Risiken bewusst ist, habe ich eine Verantwortung – vielen jungen Leuten auf der ganzen Welt ist das verwehrt. Deswegen bin ich nicht nur Aktivistin und überlasse den Rest der Politik. Ich sehe mich als Teil der Lösung und will verschiedene Gruppen zusammenbringen.
Knutti: Ich will als Wissenschaftler nicht nur Fakten und Zahlen liefern. Jemand muss erklären, was eine Erderwärmung von 2,2 Grad bedeuten würde. Ist das gefährlich? Was könnten wir dagegen tun? Die Wissenschaft will die Antworten auf diese Fragen nicht diktieren, aber sie kann das besser einordnen als die meisten anderen.

Bekommen Sie ähnliche Drohungen wie etwa Virologen in der Corona-Krise?
Knutti: Mehrheitlich sind es Beleidigungen und Belehrungen. Heute war ich zum ersten Mal seit zwei Wochen wieder im Büro und ich habe neben Hunderten E-Mails schon wieder mindestens ein halbes Dutzend Briefe, manche von Hand geschrieben oder mit einer mechanischen Schreibmaschine.
Graf: Mir schicken Leute manchmal auch richtig lange Dokumente – sechs, sieben Seiten. Oder ich bekomme Anrufe aufs private Telefon. Und in den sozialen Medien sind die Kommentare oft sexistisch. Ich musste lernen, damit umzugehen. Wenn ich das Gefühl habe, es bringt etwas, nehme ich mir auch gerne die Zeit für eine ausführliche Antwort.
Knutti: Das mache ich auch. Ich beantworte oft eine Stunde am Tag E-Mails von irgendwelchen Leuten mit irgendwelchen Fragen. Das Problem ist, dass vieles nicht mit Fakten zu tun hat, sondern Menschen sich in ihrer Identität verletzt oder bedroht fühlen.

Warum sind manche Menschen für wissenschaftliche Fakten nicht empfänglich?
Knutti: Diese Menschen haben eine bestimmte Sichtweise auf die Welt. Hält man ihnen den Spiegel vor und sagt, dass sie auf dem Holzweg sind, löst das eine Abwehrreaktion aus: «Es ist nicht wahr. Ich bin nicht schuld daran. Es ist nicht so schlimm. Mein Nachbar ist noch schlimmer. Es ist sowieso zu spät. Technik wird es lösen. Ich kann nichts machen.» Sie möchten krampfhaft etwas verneinen, weil sie ihr Weltbild nicht ändern wollen.

Das CO2-Gesetz lehnen aber nicht nur Wutbürger und Verschwörungsgläubige ab, sondern auch ein Teil des Klimastreiks – den Sie, Frau Graf, mitinitiiert haben, und Sie, Herr Knutti, unterstützt haben. Haben Sie dafür Verständnis?
Graf: Beim CO2-Gesetz sind sich auch Reto und ich einig, dass das nicht genügt (Knutti nickt). Es ist nicht Paris-konform, wir werden die Klimakrise in der Schweiz damit nicht lösen. Aber nur, weil das Gesetz nicht perfekt ist, sollte man es nicht ablehnen. Wird es angenommen, können wir uns auf andere Sachen wie den Finanzsektor oder die Landwirtschaft konzentrieren. Es gibt so viele Baustellen.
Knutti: Um es klar zu sagen: Wenn wir das CO2-Gesetz ablehnen, ist das kein Sieg für den Klimastreik, weil mehr gemacht werden muss – sondern es ist ein Sieg für die SVP, für die Auto- und die Öllobby.
Graf: Als Klimastreik Schweiz gehören wir ja zur globalen Fridays-for-Future-Bewegung. Wir arbeiten dort täglich mit Leuten zusammen, die Hurrikans und Taifune erlebt haben, die ihren Heimatort wegen Dürren und Fluten verlassen mussten. Ich persönlich könnte den Leuten nicht mit guten Gewissen sagen, dass ich ein Klimagesetz abgelehnt habe, weil es nicht weit genug ging und dass wir jetzt gar nichts machen für die nächsten ein, zwei, drei … 15 Jahre. Dann ist es einfach zu spät.

Ist das mit dem Abkommen von Paris angestrebte 1,5-Grad-Ziel global überhaupt noch erreichbar?

Knutti: Wir müssen unterscheiden zwischen wirtschaftlicher und technischer Machbarkeit und dem politischen Willen. Zwei Grad sind technisch absolut machbar, es ist bezahlbar, es lohnt sich. 1,5 Grad sind schwierig im jetzigen politischen Kontext. Entscheidender aber als die Frage, wo wir zwischen 1,5 und zwei Grad landen, ist, dass jedes Jahr zählt, jede Tonne CO2, jedes Zehntelgrad. Das CO2-Gesetz ist für die Schweiz ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Daraus können wir lernen, dann kommt es schon gut.

Die Klima-Ikonen Greta Thunberg und Luisa Neubauer twittern zu indischen Bauern, zum Nahostkonflikt. Zum Schweizer CO2-Gesetz aber hört man keinen Ton von den beiden. Enttäuscht Sie das?
Graf: Vielleicht ist die Schweiz einfach nicht so auf dem Schirm der beiden …

Luisa Neubauer ist deutschsprachig – und es ist immerhin das erste Mal, dass ein Land über die Pariser Klimaziele abstimmt.
Knutti: Die Klimajugendlichen äussern sich im Moment zu allen möglichen anderen Themen, und das finde ich eher problematisch. Anfangs waren die jungen Klimastreikenden sehr fokussiert und friedlich, nicht so politisch aufgeladen. Das war die viel stärkere Position. Mich überrascht es aber nicht, dass Greta Thunberg und Luisa Neubauer das CO2-Gesetz nicht interessiert. Die Schweiz ist klein.

Und deshalb auch nicht wichtig genug fürs Weltklima?
Knutti: Die Schweiz ist natürlich klein, aber das Argument ist so schwach, wie wenn ich sage: Ich muss nicht Steuern zahlen, weil meine Steuern im Vergleich zum Staatshaushalt so klein sind. Wenn wir sagen, dass wir das nicht können oder wollen, wird es sehr schwer, andere davon zu überzeugen. Wir müssen vor unserer eigenen Türe wischen.

Frau Graf, Sie haben die Schweiz auch bei internationalen Klimaverhandlungen vertreten. Können wir uns da bei einem Nein fürs CO2-Gesetz überhaupt noch blicken lassen?
Graf: Die Schweiz hat die internationalen Ziele sehr ambitioniert vorangetrieben. Und es würde ein extrem kritisches Signal aussenden, wenn wir als Land – das das Wissen, die Technologien, aber auch die finanziellen Ressourcen hat – das nicht mal intern umsetzen können. Es würde unserer Reputation enorm schaden.

Wissen Sie schon, wo Sie am Abstimmungssonntag sind?
Knutti: Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.
Graf: In der Natur wahrscheinlich, wie meistens am Wochenende. Und abends kann ich hoffentlich anstossen.

Und was, wenn es nicht reicht?
Graf: Dann machen wir weiter. Wir haben dann ein paar Jahre verschwendet, aber die Themen gehen uns nicht aus. Wir müssen uns etwa um die Gletscherinitiative kümmern, um den Finanzsektor. Auch da verstehen zum Glück immer mehr Unternehmen, dass sie nicht so weitermachen können wie bisher.
Knutti: Das ist wie bei einem Beinbruch. Dann brauchen wir einen Gips und das wird uns eine Weile lahmlegen, aber dann werden wir uns aufraffen und weiterarbeiten. Ich hoffe aber, dass wir gar nicht erst stolpern.

Der Spitzen-Klimaforscher

Der Berner Reto Knutti (48) ist Professor für Klimaphysik an der ETH Zürich und engagiert sich neben seiner Forschung stark für den Dialog mit Politik und Gesellschaft. Er war Leitautor von zwei Berichten des Weltklimarats, die den wissenschaftlichen Kenntnisstand über Klimawandel und globale Erwärmung zusammenfassen. Die Nachrichtenagentur Reuters listete ihn jüngst auf Platz 38 der 1000 einflussreichsten Klimaforscher weltweit.

Stefan Bohrer

Der Berner Reto Knutti (48) ist Professor für Klimaphysik an der ETH Zürich und engagiert sich neben seiner Forschung stark für den Dialog mit Politik und Gesellschaft. Er war Leitautor von zwei Berichten des Weltklimarats, die den wissenschaftlichen Kenntnisstand über Klimawandel und globale Erwärmung zusammenfassen. Die Nachrichtenagentur Reuters listete ihn jüngst auf Platz 38 der 1000 einflussreichsten Klimaforscher weltweit.

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Die Schweizer Greta

Marie-Claire Graf (24) aus Gelterkinden BL organisierte nach einer Begegnung mit Greta Thunberg im Dezember 2018 den ersten Klimastreik in der Schweiz mit. Die Baselbieterin hat Umweltnaturwissenschaften an der ETH und Politik an der Uni Zürich studiert. 2019 vertrat sie die Schweiz bei der internationalen Klimaverhandlung und arbeitet zurzeit für die Klima-Allianz Schweiz.

Nathalie Taiana

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