Jugendliche rutschen in die Arbeitslosigkeit – eine Betroffene erzählt
«Ich weiss nicht mehr, was ich machen soll»

Durch die Coronakrise stehen viele Lehrabgänger ohne Job da. Experten fordern Massnahmen vom Bund – die Betroffenen fühlen sich hilflos.
Publiziert: 18.07.2020 um 23:10 Uhr
|
Aktualisiert: 26.07.2020 um 11:40 Uhr
Sven Ziegler

Im Juni meldete das Staats­sekretariat für Wirtschaft (Seco) einen leichten Rückgang bei der Jugendarbeitslosenquote. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt für Schweizer Jugendliche ist mehr als angespannt.

Bis zu 18 Prozent der Betroffenen müssen damit rechnen, nach dem Ende ihrer Lehre vor dem Nichts ­zu stehen – wesentlicher Grund dafür ist die Corona-Krise. Wie aus einem gemeinsamen Bericht von ETH ­Zürich und der Lehrstellenplattform Yousty hervorgeht, wird möglicherweise fast jeder fünfte Lehrling, der unter normalen Umständen im Betrieb bleiben könnte, dazu gezwungen sein, den Platz zu räumen.

Antje Baertschi vom Seco rechnet daher damit, dass die Zahl arbeitsloser Jugendlicher demnächst ­wieder steigt: «Aufgrund der wirtschaftlich schwierigen Lage ist in diesem Jahr wohl mit grösseren Schwierigkeiten beim Übergang von der Lehre in ­einen regulären Job zu rechnen.» Wie hoch die Jugendarbeitslosenquote liegen wird, wagt kein Experte zu beziffern.

Bis zu 18 Prozent der Lehrabgänger müssen damit rechnen, vor dem Nichts ­zu stehen.
Foto: Keystone
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Das Notprogramm reicht nicht

Klar ist bisher lediglich, dass die Lehrabgänger besonders gefährdet sind. Ursula Renold, Professorin für Bildungssysteme an der ETH, erklärt: «Die Jugendarbeitslosigkeit ist im Sommer zwar generell höher, weil mehr Leute auf den Arbeitsmarkt kommen. In der Rezession verschärft sich die Si­tuation noch einmal. Daher machen mir die Lehrabgänger Sorgen.»

Lara Gutwald (22) weiss schon jetzt, dass es sie treffen wird. Die KV-Lernende steht Ende Juli auf der Strasse: «Es ist gar kein cooles Gefühl, wenn man merkt, dass man in wenigen Tagen keine Stelle mehr hat.» Ihren Traum, vom KV in den Marketingbereich um­zusteigen, hat sie zwar noch nicht ­völlig aufgegeben, aber vorüber­gehend zur Seite geschoben. «Langsam wird die Zeit knapp, darum überlege ich mir, im KV zu bleiben.» Ohne Vertrag zu sein, ist für sie «eine extrem schwierige Situation».

Um jungen Menschen wie Lara unter die Arme zu greifen, hat Wirtschaftsminister Guy Parmelin (60) bereits ein Notprogramm für Lehrabgänger verkündet. Betriebe, die auf Kurzarbeit gesetzt sind, dürfen ihre Lehrabgänger trotz Einstellungsstopp weiterbeschäftigen.

Für Bildungsökonom Stefan Wolter ist das zu wenig. Er fürchtet langfristige Auswirkungen. «Die Massnahme der Kurzarbeit ist nur eine Überbrückung, die strukturellen Anpassungen werden trotzdem in vielen Betrieben kommen. Lehrabgänger, die im Betrieb bleiben können, sind vorübergehend sicherlich besser geschützt. Langfristig löst dies das Problem aber nicht.»

Auch ein Fonds ist eine Option

Wolter befürchtet, dass einige Betriebe nun lieber ihre Lehr­abgänger weiterbeschäftigen, als neue Lernende auszubilden. Diese Entwicklung müsse unbedingt ­verhindert werden, denn nach der obligatorischen Schulzeit seien die Jugendlichen unbedingt auf eine Lehrstelle angewiesen: «In diesem Fall sollte man den Lehrabgänger besser vorübergehend in die Arbeitslosigkeit entlassen, statt auf die Ausbildung eines neuen Lehrlings zu verzichten.»

Nicole Cornu vom Kaufmännischen Verband Schweiz fordert weitergehende Massnahmen, beispielsweise einen Fonds zur Wei­terbeschäftigung. «Dieser könnte durch Fördergelder des Bundes ­finanziert werden, stünde den ­Firmen zur Verfügung und würde ­diesen finanziell unter die Arme greifen.»

Doch das sind momentan nichts als Vorschläge von Bildungsex­perten. Lara Gutwald muss sich deshalb mit den bestehenden ­Möglichkeiten zufriedengeben. Bisher wird die Lehrabgängerin von ihren Eltern finanziell unterstützt. Den Gang zum Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) hält sie nicht mehr für ausgeschlossen. Allerdings nur im Notfall. Denn der Papierkrieg beim Amt ist «enorm aufwendig».

Lara schreibt lieber so viele ­Bewerbungen, wie sie nur kann. Nur: «Es werden immer we­niger Stellen, zudem sind viele sehr weit weg. Wenn ich vier Stunden pro Tag im Zug sitze, ist das keine ­Option.»

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«Der Bund hat bisher keine finanziellen Anreize geschaffen»

Vorausgesetzt, die Schweiz wird nicht von einer zweiten Corona-Welle lahmgelegt, rechnen die ­Experten mit einer Entspannung der Lage im kommenden Jahr. ­Allerdings könne sich das Warten darauf für die Betroffenen als ­Pro­blem erweisen, wie Bildungs­ökonom Wolter sagt: «Sind die Jugendlichen ein halbes Jahr oder länger arbeitslos, wird es schwierig, weil die späteren Arbeitgeber nicht wissen, ob die Lücke im ­Lebenslauf nur mit der Konjunktur zusammenhängt. Irgendwann müssen die Jugendlichen einen Job annehmen, auch wenn ihnen dieser nicht passt. Das führt zu Folgen, welche die Jungen noch jahrelang prägen werden.»

Solche Notlagen zu vermeiden, sei Aufgabe der Politik, sagt Aude Spang, Sekretärin der Gewerkschaft Unia: «Wir fordern, dass die jungen Stellensuchenden besser unterstützt werden. Der Bund muss den Betrieben bei der Ausbildung der Lernenden finanziell unter die Arme greifen und bei der Stellensuche nach der Lehre Hand bieten. Der Bund hat bisher noch keine finanziellen Anreize geschaffen, obwohl wir seit Monaten über dieses Thema sprechen.»

Auch Lara Gutwald fühlt sich vom Staat alleine gelassen. Die KV-Lehrabgängerin hat alles versucht, erzählt sie. Sie formuliere ihre Bewerbungsschreiben um, versuche, herauszustechen – bisher ohne ­Erfolg. «Ich weiss langsam nicht mehr, was ich machen soll.»

Die Krise am Lehrstellenmarkt in Zahlen

18 Prozent weniger Berufseinsteiger können voraussichtlich in den Lehrbetrieben bleiben.

Ca. 640 Lehrverträge wurden der Corona-Krise wegen bislang aufgelöst.

213'575 Personen absolvierten im Jahr 2019 eine Berufslehre.

13 zusätzliche Klassen rechnet der Kanton Zürich für die Berufsmatur nach der Lehre ein.

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Bis 2025 20'000 weniger Lehrstellen

Auch die Lehrstellensuchenden sind von der Corona-Krise betroffen. Wie BLICK am Freitag berichtete, werden bis im Jahr 2025 rund 20 000 Lehrverträge weniger erwartet. Während die Zahl der abgeschlossenen Lehrverträge in diesem Jahr in etwa konstant bleiben dürfte, werden die Spätfolgen der Krise ab nächstem Jahr auf die Berufsbildung durchschlagen. Vor allem kleinere Betriebe dürften in Zukunft weniger Lehrlinge einstellen. Für die kommenden Jahre werden zudem mehr Schulabgänger erwartet. Stefan Wolter geht davon aus, dass diese vermehrt auch Lehren ausserhalb des Lieblingsberufs antreten müssen – mit dem Lehrstellenparadies Schweiz dürfte es also vorbei sein.

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