Historikerin Franziska Rogger
«Schweizerinnen brauchen mehr Selbstbewusstsein!»

Historikerin Franziska Rogger (71) weiss, dass Frauen während Jahrzehnten unermüdlich für das Stimmrecht kämpften. Darunter auch eine Witwe mit 13 Kindern. Für die Zukunft fordert sie die Schweizerinnen auf, weniger den Männern nachzueifern.
Publiziert: 01.02.2021 um 09:24 Uhr
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Aktualisiert: 01.02.2021 um 17:37 Uhr
Aline Wüst

Seit gerade mal 50 Jahren dürfen Schweizerinnen wählen und abstimmen. Eine Schande!
Franziska Rogger: Gopfridstutz, seit 50 Jahren jammern wir Schweizerinnen darüber, dass das Frauenstimm- und -wahlrecht so spät eingeführt wurde! Wir zelebrieren dieses Misserfolgsnarrativ richtiggehend.

Ist es denn ein Erfolg, dass die Frauen hierzulande weltweit unter den allerletzten waren, denen politische Rechte zugestanden wurden?
Welche Geschichte würden Sie einer Gruppe von Menschen erzählen, um sie zu demoralisieren und jegliche Motivation zu nehmen, weiterhin für ihre Rechte zu kämpfen?

Sagen Sie es mir.
Es ist in dem Fall genau diese Geschichte, dass die Einführung des Frauenstimm- und
-wahlrechts eine Niederlage und eine Demütigung war. Wir suhlen uns in einem Unrecht, das vor über einem halben Jahrhundert passierte. Es ist Zeit, dass wir damit aufhören.

Historikerin Franziska Rogger (71) ist stolz auf ihre Vorfahrinnen.
Foto: Nathalie Taiana
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Also los, erzählen Sie mir die Geschichte anders!
Die Einführung des Frauenstimmrechts war ein grosser Sieg, dem ein jahrzehntelanger taktisch kluger und beharrlicher Kampf unzähliger Frauen vorausging. Denn im Gegensatz zu allen anderen Ländern musste in der Schweiz die Verfassung geändert werden, um das Frauenstimm- und -wahlrecht einzuführen.

Dafür brauchte es eine Volksabstimmung.
Und das verlangte eine Konfrontation von Angesicht zu Angesicht. Es galt, gegen die anzutreten, die man liebte: Ehemänner, Brüder, Väter und Söhne.

Was war die Taktik?
Die Schweizerinnen mussten ihre Strategie über Generationen hinweg erarbeiten. Sie verfassten Bittschriften an die Obrigkeit, sie machten Unterschriftensammlungen, Initiativen, Motionen, Petitionen, Interpellationen und Demonstrationen. Bekannt ist auch die riesige Schnecke, die an der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit 1928 beim Eröffnungsumzug dabei war. Eine Anspielung auf das politische Schneckentempo in Sachen Frauenstimmrecht. Die Frauen versuchten auch immer wieder Einfluss zu nehmen auf Gesetze. Doch sie merkten schnell: Erst wenn sie das Stimmrecht haben, können sie Gesetze ändern, und erst wenn sie Gesetze ändern können, wird sich die Lebenssituation der Frauen verändern.

Warum wehrten sich die Männer?
Sie wollten nicht abweichen von dem, was aus ihrer Sicht perfekt funktionierte. Ausserdem waren sie nicht bereit, ein Privileg aufzugeben, für das sie im Gegenzug scheinbar nichts bekamen.

Sie bekamen eine richtige Demokratie.
Das haben die Frauen damals immer gesagt: Solange die Frauen nicht stimmen können, ist die Schweiz keine Demokratie.

1959 stimmten die Männer dagegen, 1971 stimmten sie zu. Was hat sich im Jahrzehnt dazwischen verändert?
Die Pille wurde erfunden. Das war ein wichtiges Teilchen im Prozess.

Weshalb?
Weil Frauen damit nicht mehr als gebundenes Familienmitglied, sondern als eigenständiger Mensch begriffen wurden. Sie hatten eigene Berufe und damit eigene Sozialleistungen, eigene Netzwerke und eine eigene Sexualität. Das erkannten auch die Männer.

Aktuell bestehen sechs Kantonsregierungen nur aus Männern. Zum Beispiel im Aargau.
In Luzern auch! Das deprimiert mich. Es zeigt, dass Demokratie immer und immer wieder erkämpft werden muss. Aber es gibt auch andere Beispiele. In der Stadt Bern sind mehr Frauen im Parlament als Männer. Vielleicht ist es bald so, dass die Männer eine Quote fordern, damit sie wieder zu 50 Prozent im Parlament vertreten sind.

Auch in anderen Bereichen gibt es noch Ungleichheit. Zum Beispiel beim Lohn.
Jedes Jahr gibt es Demonstrationen zur Lohngleichheit mit schönen Plakaten. Das ist gut! Aber montags muss die Frau aufs Personalbüro gehen und sagen: Ich will mehr Lohn. Sonst passiert nichts.

Ist das ein Vorwurf an die Frauen?
Nein, ich sehe es ja an mir selber. Ich habe das nie gemacht. Und auch heute falle ich in gewissen Bereichen noch in alte Muster zurück. Es ist nichts so schwierig, als gegen Prägungen vorzugehen, mit denen sowohl Frauen als auch Männer bis ins Innerste imprägniert sind. Es braucht Zeit, und wir Frauen müssen uns motivieren zum Vorwärtsgehen. Deshalb bin ich so allergisch auf den Spruch, dass das späte Stimmrecht eine Schande sei. Das ist demotivierend.

Sie veröffentlichen in diesen Tagen ein neues Buch. Es geht um Julie Ryff.
Ich gestehe, ich habe noch nie von dieser Frau gehört.

Da sind Sie in guter Gesellschaft. Als Historikerin kann ich meiner Zunft kein Kränzchen winden. Frauen kommen in den meisten Geschichtsbüchern schlicht nicht vor. Im Jahr 2015 erschienen zwei neue Bücher über die Geschichte der Schweiz – auch da war keine eigentliche Geschichte der Schweizerinnen drin. Die Autoren sagen dann immer: In diesem oder jenem Gebiet gab es halt keine Frauen.

Ihre Antwort?
Ich frage: Haben Sie gesucht? Meinen Sie, ich hätte Julie Ryff gefunden, wenn ich nicht gesucht hätte? Was meinen Sie, was haben die Frauen gemacht, während die Männer ihre Heldentaten vollbrachten?

Wo sind denn all die Schweizer Heldinnen?
Wenn Heldentum so definiert ist, dass ein Held einer Armee vorstand oder wirtschaftlich oder politisch führend war, konnten Frauen gar keine Heldinnen sein.

Darum ist die Geschichtsschreibung männlich.
Auch heute noch schauen wir Frauen die Welt viel zu oft mit männlichen Augen an. Die Frauen wollen die Rolle des Mannes einnehmen. Sie sehen einzig das Männliche als erstrebenswert.

Was wünschen Sie den Schweizerinnen?
Mehr Selbstbewusstsein!

Inwiefern?
Wir müssen unsere Taten und Karrieren toll finden. Warum eifern wir in unseren Lebensläufen den Männern nach, sehen uns und unsere Prägungen damit als minderwertig an? Warum ist es nicht umgekehrt? Warum Frauenquoten für Verwaltungsräte? Weshalb nicht Quoten für Männer in Chefetagen verlangen, die mindestens die Hälfte der Familienarbeit übernehmen?

Wenn Frauen für Betreuungs-, Pflege- und Haushaltsarbeit nicht oder schlecht bezahlt werden, bringt das wenig. Definiert nicht schlicht Geld den Wert einer Arbeit?
Was die schlecht bezahlten Betreuungs-, Pflege- und Verkaufsberufe angeht, so bleiben die minderwertig, solange auch wir Frauen finden, ein Männerberuf sei etwas Besseres, Systemrelevanteres. Zudem müssen Frauen verstehen, dass sie keine bezahlten Familienanhängsel sind, sondern wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen sollen. Dann wird der Lohn plötzlich sehr wichtig.

Wer war denn nun diese Julie Ryff, über die Sie ein Buch geschrieben haben?
Eine der Pionierinnen des Frauenstimmrechts. Angestossen wurde diese Bewegung um 1900 von Frauen, die über ihre persönlichen Erfahrungen nachdachten und daraus politische Forderungen ableiteten. Sie wollten die Lebensumstände aller Frauen ändern und damit der Gesellschaft und dem Vaterland dienen. Julie Ryff war eine Witwe mit 13 Kindern. Sie war Sekretärin des Frauenkomitees und hat Anfang des 20. Jahrhunderts eine grosse Umfrage zum Leben der Schweizer Frauen erstellt, die heute im Frauenarchiv der Gosteli-Stiftung bei Bern archiviert ist. Auch als 1907 das Zivilgesetzbuch verfasst wurde, war Julie Ryff sehr engagiert.

Was können wir als Gesellschaft von den Kämpferinnen für das Frauenstimmrecht lernen?
Wenn eine Forderung ihre Berechtigung hat, wird sie sich durchsetzen können. Obwohl es manchmal lange geht. Es braucht Geduld, Durchhaltewillen und Menschen, die bereit sind zu kämpfen.

Wie sollen wir Schweizerinnen über unsere Vorfahrinnen denken?
Als eine Vielzahl von tapferen, engagierten, lebendigen und unverzagten Frauen.

Was entgegnen Sie, wenn Sie im Ausland auf das späte Schweizer Frauenstimmrecht angesprochen werden?
In allen anderen Ländern gibt es weder ein Frauen- noch ein Männerstimmrecht. Bloss ein Wahlrecht. Aus Sicht der Schweizerinnen sind diese Frauen nicht fünfzig Jahre voraus, sondern fünfzig Jahre im Rückstand. Sie sollten sich also sputen!

Biografie Franziska Rogger

Franziska Rogger Kappeler (71) studierte in Bern und Berlin Geschichte und promovierte. Sie arbeitete als Journalistin, führte Forschungsaufträge aus, konzipierte Ausstellungen und leitete 20 Jahre lang das Archiv der Universität Bern. Heute schreibt sie vor allem Bücher. Ihr Themenschwerpunkt sind Frauenbiografien und die Geschichte der Schweizerinnen. Rogger ist verheiratet und Mutter von zwei Söhnen. Sie lebt in Hinterkappelen bei Bern. Ihr neustes Buch «Wir werden auf das Stimmrecht hinarbeiten» erscheint Anfang Februar bei NZZ Libro.

Historikerin und Autorin Franziska Rogger
Nathalie Taiana

Franziska Rogger Kappeler (71) studierte in Bern und Berlin Geschichte und promovierte. Sie arbeitete als Journalistin, führte Forschungsaufträge aus, konzipierte Ausstellungen und leitete 20 Jahre lang das Archiv der Universität Bern. Heute schreibt sie vor allem Bücher. Ihr Themenschwerpunkt sind Frauenbiografien und die Geschichte der Schweizerinnen. Rogger ist verheiratet und Mutter von zwei Söhnen. Sie lebt in Hinterkappelen bei Bern. Ihr neustes Buch «Wir werden auf das Stimmrecht hinarbeiten» erscheint Anfang Februar bei NZZ Libro.

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50 Jahre Frauenstimmrecht – die Serie

Am 7. Februar 1971 sagte das Stimmvolk in der Schweiz – dazumals ausschliesslich Männer – in einer eidgenössischen Abstimmung Ja zum nationalen Stimm- und Wahlrecht für Frauen. Die Schweiz war damit eines der letzten europäischen Länder, das dieses Bürgerrecht auch der weiblichen Bevölkerung zugestanden hat. In einer Serie geht die Blick-Gruppe diesem für unsere Demokratie historischen Ereignis auf den Grund. Wo stehen wir heute, 50 Jahre später, in Sachen Bürgerrechte, Emanzipation und Gleichstellung?

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