Grausame Gefängnisse der Hoffnungslosigkeit
Warum Fotograf Hannes Schmid in Kambodscha den Ärmsten hilft

Der Marlboro-Cowboy machte den Schweizer Fotografen Hannes Schmid (68) weltberühmt. Jetzt nutzt dieser seine unbändige Energie, um den Ärmsten der Welt zu helfen.
Publiziert: 13.09.2015 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 21:25 Uhr
Von Philippe Pfister (Text) und Philippe Rossier (Foto)

Das Atlier von Hannes Schmid an der Zürcher Luegislandstrasse ist einer jener Räume, bei deren Betreten einen der Wunsch befallen kann, für ein paar Tage darin eingeschlossen zu sein. Es ist eine Schatzkammer der Populärkultur. Meterhoch türmen sich Archivschachteln, jede prall gefüllt mit Dias aus den Siebziger- und Achtzigerjahren, über 70'000 Stück insgesamt. Allein die handgeschriebenen Beschriftungen flössen Ehrfurcht ein. Kaum ein Star, kaum eine Band, die der heute 68-Jährige nicht fotografiert hat: Bob Geldof (63), Freddie Mercury († 1991), Mick Jagger (72), Abba, AC/DC – alle hatte er vor der Linse.

Später erfand Schmid den Marlboro-Cowboy neu: kernige Kerle, die in Staubwolken dem Sonnenuntergang entgegenreiten, über dem Lagerfeuer Kaffee kochen und sich dazu eine Zigarette anstecken – das war Schmids Inszenierung. Die Bilder gelten heute als Ikonen der Werbefotografie. 

Was er in Angriff nimmt, zieht er mit Vehemenz durch

Die Cowboys von damals begleiten Schmid noch heute, und das fast jede Nacht. Das kam so: 2003 musste er zusehen, wie die Kunstwelt in Venedig den Amerikaner

Hannes Schmid in seinem Atelier in Zürich: Das – gemalte – Bild im Hintergrund ist beinahe fertig. Sieben Monate hat er daran gearbeitet. Der Marlboro-Cowboy machte den Schweizer Fotografen weltberühmt.
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Richard Prince (66) feierte. Dieser hatte frech einige von Schmids alten Cowboy-Bildern abfotografiert – Kunst über amerikanische Trivialmythen nannte er das.

Schmid fühlte sich beraubt. Und fortan getrieben, seine Bilder zurückzuholen. Und so fing er an, die Fotos von damals nachzumalen – auf Leinwand, in Öl. Das Handwerk dazu eignete er sich in jahrelanger Übung an. «Die ersten Versuche waren desaströs, eine Katastrophe, einfach nur Mist», erinnert er sich. Dann, nach etwa drei Jahren, waren die Bilder aus einer Distanz von einigen Metern kaum noch von Fotos zu unterscheiden. Inzwischen hat Schmid seine Technik perfektioniert; die Bilder wirken ultrarealistisch, fast dreidimensional.

Wegen der Prince-Geschichte steht Schmid nun zwischen 23 Uhr und fünf Uhr in der Früh vor der Leinwand und trägt eine Farbschicht nach der anderen auf. Gerade ist er dabei, wieder ein Bild zu vollenden – «es hat jetzt 26 Übermalungen», sagt er, während er mit der Hand sanft darüberstreicht.

Die in langen Nächten geschaffenen Cowboys in Öl – sie beweisen, mit welcher Vehemenz und Ausdauer Schmid seine Ideen umsetzt, wenn sich diese in seinem Kopf festgesetzt haben. Mit ähnlichem Furor treibt er seit ein paar Jahren auch sein jüngstes Projekt voran: Es heisst Smiling Gecko und leistet Entwicklungshilfe in Kambodscha, einem der ärmsten und korruptesten Länder der Welt.

Die Roten Khmer mordeten das Land in den Siebzigerjahren in die Steinzeit zurück. Schätzungsweise 2,2 Millionen Menschen mussten unter dem Terrorregime Pol Pots ihr Leben lassen – erholt hat sich das Land mit seinen 14 Millionen Einwohnern bis heute nicht. Mit Kambodschas «brutalster Armut» sah sich Schmid zum ersten Mal konfrontiert, als er vor fünf Jahren in Thailand ein schrecklich entstelltes Mädchen aus Kambodscha traf. Die Kleine war im Alter von drei Jahren absichtlich mit einem Schweissbrenner schwer verletzt und danach als Bettelsklavin mehr als ein Dutzend Mal verkauft worden. «Ihr Schicksal hat mich extrem beschäftigt», erzählt Schmid, selbst Vater einer 15-jährigen Tochter und eines 12-jährigen Sohns.

Für fünf Blowjobs gibt es vielleicht einen Dollar

Die Begegnung mit der Bettelsklavin führte ihn in die Slums der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh, «wo alleine 50'000 Kinder ohne jegliche Rechte leben», wie er sagt. Für eine Weile lebte Schmid selbst auf der Müllhalde – nur zu gut kennt er inzwischen diese grausamen Gefängnisse der Hoffnungslosigkeit. Schon Fünf-, Sechsjährige durchwühlen auf der Suche nach Wiederverwertbarem den Dreck, für ein paar Cents am Tag, ohne Chance, je eine Schulbank zu sehen. Junge Mädchen werden nachts von Männern auf Motorrädern abgeholt. «Für fünf Blowjobs gibt es vielleicht einen Dollar, und dafür ein Kilo Reis», sagt Schmid. Kinderprostitution ist in Kambodscha, wo fast jedes amtliche Dokument gegen Bargeld zu haben ist, ein einträgliches Geschäft.

Falls Essen da ist, nützt das vielen Kindern erst mal wenig: Sie müssten entwurmt werden. Medizinische Hilfe können sich die Familien aber nicht leisten – ganz abgesehen davon, dass sie gar nicht wissen, wo das Problem liegt.

Für Schmid war klar: Hier wollte er, musste er helfen. Zusammen mit dem befreundeten Anwalt Dominique Rütimann (53) gründete er 2012 den gemeinnützigen Verein Smiling Gecko; seit April letzten Jahres ist das Hilfswerk mit einer rechtlich unabhängigen, lokalen Organisation in Kambdoscha aktiv.

Am Anfang verteilte er Reissäckli

In der Anfangszeit habe er «vor allem Reissäckli verteilt und Mädchen von den Töffs gerissen», erinnert sich Schmid – Hilfe, die langfristig wenig bis gar nichts bringe. Inzwischen hat er dazugelernt. Und zwar so viel, dass er nach Dubai und Singapur zu Vorträgen eingeladen wird, um zu schildern, welche Entwicklungsprojekte nachhaltig sind – und welche nicht. Wichtigster Grundgedanke: Solche Projekte funktionieren nur in Gruppen; sie müssen sich gegenseitig stützen und letztlich profitabel

arbeiten. Und sie müssen auf dem Land entstehen, um einen Teil der Armutsabwanderung in die Städte zu stoppen. Und: «Spender sind Investoren, die genau wissen wollen, was aus ihrem Investment wird.»

In der Provinz Kampong Chhnang nördlich von Phnom Penh begann Schmid letztes Jahr, seine Ideen einer ökonomisch nachhaltigen Zone umzusetzen:

  • Ein Landwirtschaftsbetrieb ist bereits operativ. Zwölf Familien, die Schmid aus den Slums geholt hat, züchten auf 8,8 Hektaren Hühner und Schweine und produzieren Gemüse – industriell und gewinnbringend. Die 320 Bauern im Dorf will Smiling Gecko einbinden, sie sollen dereinst in der Lage sein, einen Teil des Futters für die Tiere zu liefern.
  • Zusammen mit angehenden Architektinnen und Architekten der Eidg. Technischen Hochschule (ETH) Zürich plant Smiling Gecko eine Schule. Im Oktober reisen 40 Studenten unter der Leitung von Prof. Dirk Hebel (44) nach Kambodscha, wenig später wollen sie konkrete Pläne vorlegen. Erst sollen Kindergärtler und Primarschüler einziehen, eine High School soll folgen.
  • Gegen 300 Jobs für Frauen will Smiling Gecko in einer Textilfabrik schaffen; Partner ist das Schweizer Bekleidungsunternehmen Workfashion.

Und, typisch Schmid: Er will beweisen, dass das alles funktionieren kann – und schnell aus Fehlern lernen: Wirtschaftsprüfer von PricewaterhouseCoopers sollen seine Projekte regelmässig unter die Lupe nehmen. Bei sich selbst will Schmid jene Transparenz garantieren, die er bei anderen vermisst.

Irgendwann möchte er bei Smiling Gecko in den Hintergrund treten – andere sollen weiterführen, was er angestossen hat. Dies allerdings dürfte vorerst ein frommer Wunsch bleiben. Denn schon sprudeln neue Ideen: Mit Versicherungsexperten brütet er über Krankenkassenmodelle für die Ärmsten, mit Wissenschaftlern über schnell wachsenden Bambus, der u. a. als Baumaterial dienen könnte.

Wer Schmid kennt, weiss: Wenn er von einer Idee überzeugt ist, lässt er sich durch nichts mehr stoppen.

Weitere Informationen: www.smilinggecko.ch

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