Nach Wolfs-Vorfall am Piz Beverin warnt Biologe Marcel Züger
«Wird nichts getan, sind die Wölfe bald in den Dörfern»

Wölfe passen ihr Verhalten schlicht ihrer Umgebung an. Hätten sie von Menschen nichts zu befürchten, würden sie immer dreister, sagt der Bündner Biologe Marcel Züger. Das hat Folgen.
Publiziert: 02.09.2021 um 01:53 Uhr
Aline Wüst

In Botswana gibt es auf Safaris Elefanten zu sehen. In der Schweiz Wölfe. Das zumindest schlug kürzlich Graubündens Tourismus-Chef vor: Wolf-Safaris. Eine Gruppe Touristen begegnete vergangenen Freitag dem Wolf, ohne eine Safari gebucht zu haben. Sie waren beim Wandern nahe dem Piz Beverin, als sich die Raubtiere näherten.

Das verändert die Wolfsdiskussion. Nun sind erstmals nicht mehr nur Bauern und Hirten betroffen, sondern potenziell auch Städter, die durch die Alpen wandern. Wolfkritiker aus den Bergkantonen schmunzeln darüber. In den sozialen Medien schreibt eine Frau: «Das waren hoffentlich Wolfskuschler.» Eine andere: «Hoffentlich waren es solche, die den Wolf wollten.»

Sechs Wolfsrudel leben in Graubünden. 248 Risse gab es 2020, in diesem Jahr sind es aktuell 164, hauptsächlich Schafe. Am auffälligsten benimmt sich das Beverin-Rudel. Dazu gehören die Wölfe, die den Wanderern begegneten. Das Streifgebiet dieses Rudels erstreckt sich von der Ostflanke des Valsertals über das Safiental bis an den Heinzenberg und im Süden über das Schams bis in den Rheinwald.

Wie eine Jugendgang

Was ist mit diesen Tieren los? Wölfe gelten doch als scheu und nachtaktiv. Marcel Züger (48) ist Biologe an der ETH und Inhaber eines Ökobüros. Er lebt in Salouf GR. Die Wölfe des Beverin-Rudels kennt er gut. Schon einige Nächte hat er auf Alpen verbracht, wo sie herumstreifen. Angst hatte er nie. Züger sagt: «Das Beverin-Rudel ist wie eine Gruppe Halbstarker, wie eine Jugendgang.» Sie testeten die Grenzen und wenn sie keine spürten, gingen sie immer weiter. Scheu zu sein, war für Wölfe über Jahrtausende hinweg die einzige Möglichkeit zu überleben, da sie gejagt wurden. Heute sei scheu sein kein Vorteil mehr. Im Gegenteil: «Den Frechen gehört die Welt.» Das zeigten auch Füchse, Dachse und Marder, die in der Stadt herumstreiften. Merken Wölfe also, dass sie von Menschen nichts zu fürchten haben, würden sie immer dreister. «Und wenn Wölfe lernen, dass sie mit Aggressivität noch einfacher zum Ziel kommen, tun sie das.» Werde also nun nichts unternommen, seien die Wölfe bald in den Dörfern.

Den Menschen sähen die Beverin-Wölfe als Eindringlinge in ihr Revier. Aber nicht als Beute. «Die Gefahr eines Angriffs auf Menschen ist zurzeit sehr gering.» Gefährlich sei nur, wenn ein Wanderer die Nerven verliert und vor einem Wolf wegrennt. «Das könnte den Beutetrieb des Raubtiers auslösen.» Lebensgefährlich sein kann es allerdings schon heute – für Hunde, die mit ihren Besitzern in den Streifgebieten von Wölfen unterwegs sind.

Abschuss beantragt

Dass Wölfe des Beverin-Rudels Hunde angreifen, hat die Hirtin einer Alp am Schamserberg in den letzten Wochen erlebt. Gleich zweimal begegnete sie Wölfen. Beim ersten Mal knurrte sie einer aus einer Entfernung von etwa zehn Metern an. Beim zweiten Mal tauchten drei Wölfe auf, die ihren Hirtenhund angriffen. Beide Male reagierte sie vorbildlich. Mit lauter Stimme machte die Hirtin auf sich aufmerksam – die Wölfe verschwanden. Der Hund ist wohlauf.

Die Vorfälle mit den Wanderern und der Hirtin gehen dem Kanton zu weit. Der Abschuss von drei Jungwölfen und deren Vater wurde beim Bund beantragt.

Züger befürwortet den Abschuss. Er sieht zwei Vorteile: einen Lerneffekt und eine genetische Selektion. Die dreisten Wölfe verschwinden, die scheuen überleben. «Ein strenges Wolfsmanagement ist unsere einzige Möglichkeit, den Wolf in die Kulturlandschaft zu integrieren.» Andernfalls werde die Situation in den Bergkantonen früher oder später eskalieren. «Dann werden sämtliche Wölfe eliminiert.»

In der Schweiz leben etwa 80 Wölfe.
Foto: Keystone
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Uetliberg wäre perfektes Wolfsgebiet

Aktuell leben in der Schweiz elf Rudel. Züger glaubt, dass genug Platz für bis zu 15 Rudel wäre. Aber gut verteilt auf das ganze Land. «Der Uetliberg wäre perfektes Wolfsgebiet», sagt er. In den ruhigen Tobeln könnten sie die Jungen aufziehen und sich von da aus auf ihre Streifzüge machen. Ihnen Grenzen zu setzen, wäre wichtig. Sonst würden die Wölfe bald durch die Stadt Zürich streifen, sich an Weggeworfenem bei McDonald's bedienen und die Katzen fressen.» Wichtig sei es, dem Wolf jetzt in den Alpen Grenzen zu setzen, nicht erst vor den Toren der Stadt, sagt Züger.

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