Gerichtspsychiater Frank Urbaniok (56) über sein schweres Schicksal
«Ich brauche in Zukunft noch sehr viel Glück»

BLICK-Gerichtsreporter Viktor Dammann traf den bekanntesten Gerichtspsychiater der Schweiz zum grossen Interview an den Gestaden des Zürichsees in Wädenswil ZH. Frank Urbaniok (56) hat schwierige Monate hinter sich – und blickt umso optimistischer in die Zukunft.
Publiziert: 10.04.2019 um 00:09 Uhr
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Aktualisiert: 10.04.2019 um 22:14 Uhr
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Viktor DammannReporter

Frank Urbaniok (56) und BLICK-Gerichtsreporter Viktor Dammann (69) sind sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder in Gerichtssälen begegnet. Auch privat treffen sie sich regelmässig, um über die Einordnung von Verbrechen und deren Verhinderung zu sprechen. Der Psychiater und der Reporter sind beide am Zürichsee zu Hause – am Wädenswiler Ufer trafen sie sich auch zum grossen BLICK-Interview.

BLICK: Herr Urbaniok, Sie haben eine schwere Krebserkrankung überstanden. Wie geht es Ihnen heute?
Frank Urbaniok: Mein Leben ist viel komplizierter geworden. Die Erkrankung ist nicht spurlos an mir vorbeigegangen, und die Zukunft ist viel unsicherer als vorher. Aber ich will nicht klagen. Den Umständen entsprechend geht es mir im Moment so weit gut.

Wann und auf welche Weise haben Sie von der Diagnose erfahren?
Ich hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, und habe an einem Freitagabend Ende September 2016 ein Computer-Tomogramm (CT) gemacht. Dabei wurde ein Tumor der Bauchspeicheldrüse entdeckt.

Im Gespräch: BLICK-Reporter Viktor Dammann und Gerichtspsychiater Frank Urbaniok.
Foto: Thomas Meier
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Und dann?
Am selben Abend war ich in Zürich noch Gast in der Hazel Brugger Show, in der sie mich interviewte. Am Samstag hatte ich eine mehrstündige Arbeitssitzung in Karlsruhe (D). Am Sonntag habe ich erstmals alles losgelassen. Ich wusste, es wird schwierig, denn am Anfang sah es sehr schlecht aus.

Wie gehen Sie mit der Erkrankung um?
Wie viele andere Betroffene muss ich es so annehmen, wie es ist. Die Operationen und Chemotherapien waren sehr mühsam und kräfteraubend. Und mir ist bewusst, dass ich in Zukunft noch sehr viel Glück brauche.

Ist es ein Vorteil bei dieser Diagnose, dass man selbst Arzt und Psychiater ist?
Nein. Als Patient bin ich genauso Patient wie viele andere auch. Ein Vorteil ist es aber, wenn man in einer solchen Situation nicht allein ist. In meinem Fall war es meine Frau, die mich in dieser schwierigen Zeit sehr unterstützt hat.

Sie haben als 30-Jähriger den Psychiatrisch-Psychologischen Dienst (PPD) aufgebaut. Nun mussten Sie als Folge der Erkrankung zurücktreten. 
Es waren 22 sehr intensive Jahre. Ähnlich wie Leistungssport – spannend, herausfordernd, aber auch anstrengend. Das hat sich nun geändert. Ich schreibe noch ab und zu Gutachten oder eine wissenschaftliche Arbeit. Aber mein Arbeitspensum ist stark reduziert. 

Unter Ihrer Leitung wurden die Rückfallquoten drastisch reduziert, grosse Katastrophen blieben aus. Auch international gilt das Zürcher Modell als vorbildlich. Alles richtig gemacht?
Das Ergebnis ist kein Zufall. Viele engagierte Fachleute haben hart dafür gearbeitet. Aber mir ist sehr bewusst, dass wir auch eine gute Portion Glück hatten. Man kann sehr viel dafür tun, um Rückfälle zu verhindern und potenzielle Opfer zu schützen. Aber eine hundertprozentige Sicherheit gibt es leider nicht. Alles gute Gründe, um auf dem Boden zu bleiben und sich nicht zu überschätzen.

Welches war der belastendste Fall Ihrer Karriere als Gutachter?
Es gibt nicht den einen Fall. Ich habe vieles gesehen, was man sich kaum vorstellen kann. Aber während meiner Arbeit bin ich voll darauf konzentriert, die Gründe einer Tat zu verstehen und möglichst präzise herauszuarbeiten. Da haben persönliche Befindlichkeiten keinen Platz.

Sie konnten also immer gut schlafen?
Grundsätzlich kann ich Beruf und Privatleben sehr gut trennen. Aber ich bin kein Roboter. Es gab immer wieder kurze Momente, in denen ich traurige Details eines Falles nicht nur verstanden habe, sondern in denen sie mir auch emotional nahegegangen sind. Klar, darf das keinen Einfluss auf meine Arbeit haben. Aber es sind Erfahrungen, die mich als Mensch sicher auch geprägt haben.

Kann man einen Beschuldigten begutachten, der die Tat bestreitet oder herunterspielt?
Absolut. Denn bei einem Gutachten habe ich viele verschiedene Informationsquellen. Ich kenne den genauen Tatablauf, habe Informationen zur Lebensgeschichte, zu Vorstrafen und Berichte von Drittpersonen. Es ist wie ein Puzzle. Am Schluss muss alles zusammenpassen und ein stimmiges Gesamtbild ergeben. Man erkennt dann, wenn die Aussagen des Täters quer in der Landschaft stehen. Man muss sich halt die Arbeit machen und alle verfügbaren Informationen zusammentragen und analysieren. Und man darf sich nicht einseitig nur auf die Aussagen des Täters stützen.

Kann man einen Gewalttäter therapieren, wenn er sich weigert, sich mit seiner Tat zu befassen?
Nein. Es ist ja generell so, dass man sich nicht gerne mit unangenehmen Dingen beschäftigt. Das ist auch bei einigen Tätern so. Deswegen sollte man die Flinte nicht zu früh ins Korn werfen. Denn viele Täter lassen sich dazu motivieren, sich mit ihrer Tat und ihrem Risiko auseinanderzusetzen, wenn man als Psychiater am Ball bleibt.

Ich spiele dabei auch auf Thomas Nick, den Vierfachmörder von Rupperswil, an. Er gibt an, sein Ziel sei der Missbrauch des Buben gewesen. Mit den Tötungen habe er lediglich alle Zeugen beseitigen wollen. Glauben Sie das?
Diese Aussage überzeugt mich nicht. Das Vorgehen war hochgradig geplant, und offensichtlich traf er bereits Vorbereitungen für eine neue Tat. Ich habe in meiner Karriere sehr viele Pädophile gesehen. Aber keiner hätte im Traum daran gedacht, einen solch brutalen mehrfachen Mord zu begehen. Deswegen erklärt die angebliche Pädophilie aus meiner Sicht die Tat nicht.

Sie führten vor dem Prozess aus, die beiden Gutachter hätten das eigentliche Mordmotiv nicht angeben können. Demzufolge sei Thomas Nick gar nicht therapierbar. Hätten Sie eine lebenslange Verwahrung befürwortet?
Es steht mir nicht zu, irgendwelche Urteile zu fordern. Ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass man keine Aussage zur Therapierbarkeit machen kann, wenn man gar nicht weiss, warum jemand eine Tat begangen hat. Dann weiss man ja nicht, was sich ändern müsste, damit das Risiko sinkt. Deswegen fand ich es falsch, dass neben der Verwahrung eine Therapie angeordnet wurde. Genau das hat das Gericht nun ja auch korrigiert. 

Aber sollte denn nicht jeder Täter therapiert werden?
Die meisten sollten therapiert werden. Denn 99 Prozent aller Täter leben irgendwann wieder unter uns, einfach weil sie ihre Strafe abgesessen haben. Davon zu unterscheiden sind hochgefährliche, untherapierbare Täter. Ich bin immer dafür eingetreten, dass diese sehr kleine Gruppe langfristig – auch lebenslang – eingesperrt wird, um die Bevölkerung vor ihnen zu schützen. Dafür bin ich früher oft beschimpft worden.

Sie haben mit Fotres ein Instrument zur Risikobeurteilung entwickelt, das auch im Ausland eingesetzt wird. In der Schweiz wurde es in den Medien immer wieder kritisiert: ein seelenloses Computerprogramm, das automatisch Risiken berechnet.
Das ist ein Beispiel dafür, wie viel Falsches in den Medien verbreitet wird. Krankheit und Gefährlichkeit sind zwei verschiedene Phänomene. Darum definiert Fotres mehr als 100 Risikoeigenschaften. Der Gutachter wählt daraus diejenigen aus, die bei einem bestimmten Täter vorliegen und mit denen die Tat erklärt werden kann. Fotres ist damit sogar das Gegenteil irgendeiner «automatischen Berechnung». Man kann sich auch einfach mit dem Handbuch hinsetzen und es ganz ohne Computer anwenden.

Experte für das Böse

Der gebürtige Kölner Frank Urbaniok (56) baute ab 1996 den Psychiatrisch-Psychologischen Dienst (PPD) des Zürcher Justizvollzugs auf. Bis zu seiner schweren Krebserkrankung war er als Chefarzt für die fachspezifische Behandlung von gefährlichen Straftätern verantwortlich. Neben risikosenkenden Therapien war er auch für Risikobeurteilungen zuständig. Dazu schuf er mit Fotres ein eigenes Instrument für die Risikobeurteilung bei Straftätern. 2010 wurde Urbaniok zum Professor der Uni Konstanz ernannt. Er schrieb unter vielen andern die psychiatrischen Gutachten über die Zwillingsmörderin von Horgen und den Zuger Amokläufer und Massenmörder Friedrich Leibacher.

Der gebürtige Kölner Frank Urbaniok (56) baute ab 1996 den Psychiatrisch-Psychologischen Dienst (PPD) des Zürcher Justizvollzugs auf. Bis zu seiner schweren Krebserkrankung war er als Chefarzt für die fachspezifische Behandlung von gefährlichen Straftätern verantwortlich. Neben risikosenkenden Therapien war er auch für Risikobeurteilungen zuständig. Dazu schuf er mit Fotres ein eigenes Instrument für die Risikobeurteilung bei Straftätern. 2010 wurde Urbaniok zum Professor der Uni Konstanz ernannt. Er schrieb unter vielen andern die psychiatrischen Gutachten über die Zwillingsmörderin von Horgen und den Zuger Amokläufer und Massenmörder Friedrich Leibacher.

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