«Wir wissen nicht, ob es neue Mutationen gibt»
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Lukas Engelberger im Gespräch:«Wir wissen nicht, ob es neue Mutationen gibt»

GDK-Präsident Lukas Engelberger über zwei Jahre Pandemie
«Wir müssen raus aus dem Krisenmodus»

Lukas Engelberger, der oberste Gesundheitsdirektor des Landes, zeigt sich im Interview nachdenklich. Sein Urteil: Die Schweiz agierte beim Schutz vor dem Virus zu zögerlich.
Publiziert: 06.02.2022 um 10:21 Uhr
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Aktualisiert: 06.02.2022 um 11:51 Uhr
Interview: Sven Zaugg

Er wurde zum Gesicht der Pandemie, zum Vermittler zwischen Bund und Kantonen: Lukas Engelberger, Gesundheitsdirektor der Stadt Basel und Präsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz GDK, steht seit zwei Jahren im Rampenlicht. Schulter an Schulter mit Gesundheitsminister Alain Berset erklärt er die Schweizer Corona-Politik, verteidigt Massnahmen oder Lockerungen – geduldig und staatstragend.

Auf dem Spaziergang mit SonntagsBlick vorbei am Münster zur Pfalz, Basels Aussichtsterrasse mit Blick auf Rhein und Stadt, zeigt sich der 47-jährige Vater dreier Kinder selbstkritisch. Die 13'000 Todesopfer stimmen ihn nachdenklich – besonders, dass die Schweiz lange von strengeren Massnahmen absah, als mit der zweiten Welle im Herbst 2020 das grosse Sterben begann: «Das Leid, das diese Menschen und ihre Angehörigen erfahren mussten, ist schwer», sagt Engelberger. «Viele konnten nicht richtig Abschied nehmen, weil es die Pandemie nicht erlaubte. Das macht mich traurig.»

Herr Engelberger, der Bundesrat will so schnell wie möglich öffnen. Vergessen wir dabei nicht die Betagten und diejenigen, die sich aufgrund einer Krankheit nicht schützen können? Was ist mit den Kindern, was ist mit Long Covid?
Lukas Engelberger: Natürlich vergessen wir diese Menschen nicht! Aber wir stossen langsam an unsere Grenzen. Um alle vulnerablen Menschen im Land permanent vor dem Virus zu schützen, müssten wir den Alltag der Bevölkerung noch über Monate, wenn nicht Jahre, weiterhin einschränken. Das ist nicht praktikabel. Was wir tun können: Mit Schutzmassnahmen in kritischen Institutionen wie Spitälern, Alters- und Pflegeheimen die Sicherheit erhöhen, allenfalls auch an Orten wie Schulen oder ÖV. Und es braucht einen individuellen Schutz von Menschen, die gefährdet sind.

Schulter an Schulter mit Gesundheitsminister Alain Berset erklärt der oberste Gesundheitsdirektor Lukas Engelberger die Schweizer Corona-Politik, verteidigt Massnahmen oder Lockerungen – geduldig und staatstragend.
Foto: keystone-sda.ch
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Lukas Engelberger

Lukas Engelberger (45) ist seit 2014 Regierungsrat von Basel-Stadt und Vorsteher des Gesundheitsdepartements. Der CVP-Politiker arbeitete früher als Rechtskonsulent bei Hoffmann-La Roche. Der Vater dreier Kinder ist seit 1. Juni 2020 Präsident der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK).

Lukas Engelberger (45) ist seit 2014 Regierungsrat von Basel-Stadt und Vorsteher des Gesundheitsdepartements. Der CVP-Politiker arbeitete früher als Rechtskonsulent bei Hoffmann-La Roche. Der Vater dreier Kinder ist seit 1. Juni 2020 Präsident der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK).

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Ist dem Basler Gesundheitsdirektor wirklich wohl mit dieser Strategie?
Wir befinden uns immer noch in der Pandemie, müssen den Krisenmodus aber bald verlassen. Gastronomie, Kultur, der Tourismus – diese Branchen brauchen wieder Luft zum Atmen. Ich bin nicht naiv: Menschen werden sich weiterhin mit dem Virus anstecken. Das müssen wir bewältigen. Und mit Blick auf die Spitalbelastung ist das derzeit möglich, obwohl die Reserven dünn sind.

Es gab viel Kritik an der Schweizer Corona-Politik. Was hätten wir besser machen müssen?
Wir müssen uns heute eingestehen, dass wir zeitweise zu wenig getan haben. In der ersten Welle, im Februar 2020, als wir kaum etwas über das Virus wussten, waren wir noch gezwungen zu improvisieren. Doch schon damals dämmerte uns eigentlich schnell, wie gefährlich diese Pandemie ist. Dennoch agierte die Schweiz ein paar Monate später zu zögerlich. Im Herbst 2020 wären raschere und konsequentere Massnahmen nötig gewesen. Gleichzeitig wollte man die Verletzlichsten unserer Gesellschaft, die Menschen in den Altersheimen, nicht mehr komplett isolieren. Mit unserer Strategie haben wir ein gewisses Risiko in Kauf genommen.

Die meisten Todesopfer forderte das Coronavirus während der zweiten Welle: In den Monaten November und Dezember 2020 lag der Sieben-Tage-Schnitt bei mehr als 80 Toten pro Tag. Es traf vornehmlich ältere Menschen.

Das stille Sterben in den Pflegeheimen nahm seinen Lauf.
Es war ein Dilemma. Alle Menschen wegzusperren, war keine Option mehr. Wir nahmen eine Güterabwägung vor und versuchten dabei, alle Interessen zu berücksichtigen. Was höher gewichtet werden soll, Gesundheitsschutz oder individuelle Freiheit, ist eine sehr schwierige Frage, die immer wieder neu beantwortet werden muss.

In einer Pandemie wiederholen sich die epidemiologischen Muster. Man wusste, was auf die Schweiz zukommen würde. Ein Sommer verstrich, der Bundesrat hob die «ausserordentliche Lage» auf und gab den Kantonen jene Kompetenzen zurück, auf die sie so sehr pochten. Doch dann erwiesen sie sich als überfordert, die Schweiz stolperte sehenden Auges in ein winterliches Fiasko.
Jetzt übertreiben Sie. Die Behörden müssen sich aber teilweise den Vorwurf gefallen lassen, zu spät gehandelt zu haben.

Senioren, die es sich mit Blick über die Altstadt weit hinaus ins Dreiländereck auf der Pfalz gemütlich gemacht haben, erkennen den Gesundheitsdirektor: «Herr Engelberger», ruft eine Dame, «machen Sie ein Foto mit uns, bitte?» Engelberger grüsst, nickt, setzt die Maske auf, sagt: «Aber gern» – «Danke, Herr Engelberger. Das ist jetzt aber schön geworden.»

2016 predigten Sie in der Heiliggeistkirche im solothurnischen Flüh: «Lebensjahre haben keinen Preis.» Sie sagten, es gehe darum, wie wir mit den Alten umgehen. Zeigt unsere Corona-Politik nun, welchen Preis wir einem Menschenleben beimessen, das sich dem Ende zuneigt?
In dieser Frage schwingt der Vorwurf mit, dass wir den Tod von Menschen leichtfertig in Kauf genommen haben. Das wird der Schweizer Corona-Politik nicht gerecht. Wir entschieden uns für einen Mittelweg, einen pragmatischen Kurs, der alle Aspekte des Lebens berücksichtigt. Die Schulen sollten offen bleiben, Angehörige ihre Eltern in den Pflegeheimen besuchen dürfen. Die psychische Gesundheit der Bevölkerung war uns wichtig.

Während sich im Herbst 2020 die zweite Welle auftürmte, stritten Bund und Kantone noch immer über die richtigen Massnahmen, in manchen Kantonen war das Contact Tracing überfordert. Schnell wurde klar, dass die föderalistische Pandemiebekämpfung dabei war, zu scheitern. Erst als die damalige Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga und Gesundheitsminister Alain Berset den Kantonen im Dezember per Videoschaltung die Leviten lasen, erliessen diese schärfere Massnahmen.

Was aber ist dann schiefgelaufen?
Der Übergang von der ausserordentlichen Lage in die besondere Lage verlief harzig. Das hatte verschiedenen Gründe. In der öffentlichen Wahrnehmung – teilweise auch in den Darstellungen des Bundesrats – standen die Kantone wieder in der alleinigen Verantwortung. Das ist aber nicht korrekt. Die besondere Lage nach Gesetz sieht eine zwischen den beiden Akteuren geteilte Verantwortung vor. Die Kommunikation des Bundes insinuierte aber: Jetzt sind wieder die Kantone dran, wir haben unsere Schuldigkeit getan …

Die miserable Kommunikation war das eine, aber die Kantone hatten auch ihre Hausaufgaben nicht gemacht.
Im Sommer waren wir der Meinung, die Situation im Griff zu haben. Die Fälle gingen zurück, das Contact Tracing funktionierte. Doch dann stiegen die Zahlen. Im Nachhinein müssen wir zugeben, dass wir ungenügend vorbereitet waren. Es fehlte aber auch an nationalen Massnahmen. Denken Sie nur an die Maskenpflicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Die hätte viel früher kommen sollen. Die ganze Diskussion um Masken war sicher nicht dienlich. Es sorgte für Irritation in der Bevölkerung und teils harsche Reaktionen von allen Seiten.

Reaktionen, die der Regierungsrat in seiner politischen Laufbahn noch nie erlebt hatte: «Auseinandersetzungen sind hart, aber Drohungen, das war für mich neu.» In den letzten zwei Jahren erhielt der Gesundheitspolitiker anonyme E-Mails – von Massnahmengegnern wie von jenen, die strengere Regeln forderten. Der Inhalt reichte von unflätigen Beschimpfungen bis zu Drohungen. «Das entspricht nicht der politischen Kultur der Schweiz», sagt Engelberger. «Und es macht nachdenklich.»

Wenn man im Rückblick die unterschiedlichen Strategien bewertet – muss man dann zum Schluss kommen, dass eine zentral gesteuerte Pandemiebekämpfung effizienter gewesen wäre?
Wir haben die Krise nicht schlechter gemeistert als zentralistisch organisierte Länder. Es entspricht dem politischen Verständnis der Schweiz, dass der Staat im Alltag nicht allzu spürbar wird. Der Frühling 2020, als der Bundesrat die ausserordentliche Lage ausrief, war eine Ausnahme. Das durfte nicht zum Dauerzustand werden.

Fakt ist aber auch, dass die Kantone nicht gewappnet waren.
Sie vertreten die These, dass mit einem besseren Contact Tracing und strengeren Massnahmen viele Tote vermeidbar gewesen wären. Aber auch in Ländern mit strengen Massnahmen gab es Tote.

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Nicht so viele wie hier in der zweiten Welle.
Es gab je nach Land unterschiedliche Verläufe, zumeist nicht minder heftig – das relativiert diese These. Der gesundheitliche Schutz der Bevölkerung liegt in der Obhut der Kantone. Das geht so lange gut, bis die Krise landesweit durchschlägt. Dann aber braucht es Massnahmen des Bundes. Zweifellos ist dieses System aufwendiger in der Kommunikation. Wir haben Vernehmlassungen und Konsultationen, hören alle an. Das kostet Zeit.

Was bedeutet das für die Arbeit des GDK-Präsidenten, also für Sie, wenn sämtliche politischen Akteure eine uneinheitliche Linie verfolgen – wenn renitente Kantone beispielsweise einfach die Hände in den Schoss legen?
Renitente Kantone gab und gibt es nicht! Unsere Absprachen können allerdings durchaus anspruchsvoll sein. Ich würde die Analyse positiver formulieren und die Abläufe als kollektiven Lernprozess beschreiben. Die Pandemie gibt sicher keinen Anlass dazu, den Föderalismus über Bord zu werfen. Bund und Kantone müssen aber immer wieder lernen, ihre Aufgaben besser zu koordinieren.

Er ist ein Vertreter der Stände, da erstaunt es kaum, dass Engelberger die Souveränität der Kantone vehement verteidigt. Und nicht nur das: Engelberger ist der Ansicht, dass die unterschiedliche politische Kultur der Kantone direkte Folgen für das jeweilige Gesundheitswesen hat – und auf die Art, wie die Pandemie bewältigt werden muss. «Gerade bei der Impfbereitschaft zeigt sich das sehr eindrücklich. Die Skepsis gegenüber der Impfung manifestierte sich vor allem im Unterschied zwischen Stadt und Land.» Mit einem zentralistischen Ansatz, glaubt Engelberger, wäre die Impfquote nicht gestiegen.

Der Gesundheitsdirektor verabschiedet sich, biegt strammen Schrittes in die Malzgasse ein, betritt Haus Nummer 30, wo sich das Schaltzentrum des Gesundheitsdepartements der Stadt Basel befindet. Der Ort, wo die Fäden aller 26 Kantone zusammenlaufen.

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