«Islamisten fühlen sich enorm gestärkt»
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Islamexpertin warnt:«Islamisten fühlen sich enorm gestärkt»

Expertin Susanne Schröter (63) über das Taliban-Regime
«Der Islamismus wird auch bei uns erstarken»

Sie ist eine gefragte Islamexpertin in Deutschland, Buchautorin und Direktorin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam: Susanne Schröter (63) spricht über die jüngsten Terroranschläge, was die Taliban antreibt und was das afghanische Volk nun erwartet.
Publiziert: 28.08.2021 um 18:19 Uhr
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Aktualisiert: 29.08.2021 um 23:16 Uhr
Interview: Rebecca Wyss

Frau Schröter, gerade verbreitet der Islamische Staat (IS) mit Terroranschlägen in Kabul Angst und Schrecken. Was hat das zu bedeuten?
Susanne Schröter:
Die Anschläge des IS richten sich auch gegen die Taliban. Diese werden dadurch vor der Weltöffentlichkeit blossgestellt. Ihre Macht ist prekär, sagen die Attentäter damit. Sie können den Frieden im Land nicht sicherstellen. Im schlimmsten Fall bedeutet das einen neuen Bürgerkrieg nach dem Abzug der US-Truppen.

Was unterscheidet die Taliban vom IS oder Al-Kaida?
Alle kämpfen um Deutungshoheit, sie sind verfeindet. Der grösste Unterschied ist, dass der IS und Al-Kaida transnational sind, sie wollen ihren Islamismus weltweit expandieren. Die Taliban schauen nur auf Afghanistan.

Was haben die Taliban im Sinn?
Die Taliban sind klassische Islamisten. Sie kämpfen für einen islamischen Gottesstaat. Was das heisst, haben wir zwischen 1996 und 2001 gesehen, als sie an der Macht waren. Das war eine finstere Diktatur. Wie alle Islamisten exerzierten sie das islamische Recht, die Scharia, durch. Rigoros.

Was heisst das konkret?
Besonders im Fokus stehen Frauen. Sie gefährden in den Augen der Taliban die soziale Ordnung, verleiten die Männer zur Sünde. Man sperrte sie im Haus ein, raus durften sie nur in Begleitung eines Verwandten, man zwang sie unter die Burka und verbot ihnen, zur Schule zu gehen oder zu arbeiten. Selbst ihre Stimmen waren gotteslästerlich genauso wie der Klang ihrer Schritte, weshalb sie Schuhe tragen mussten, die keine Geräusche machten. Wer gegen die Scharia verstiess, musste mit harten Körperstrafen wie Auspeitschungen oder Amputationen rechnen. Oder mit der Todesstrafe, etwa durch Steinigung.

Die kritische Professorin

Susanne Schröter ist 1957 in Niedersachsen geboren. Sie studierte Anthropologie, Soziologie, Kultur- und Politikwissenschaften sowie Pädagogik. Sie ist Professorin am Institut für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Direktorin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam. Schröter mischt sich beherzt in gesellschaftliche Debatten ein und kritisiert gelegentlich die eigene Zunft. 2019 erschien ihr Buch «Politischer Islam: Stresstest für Deutschland», darauf folgte nun im Juli «Allahs Karawane. Eine Reise durch das islamische Multiversum». Schröter lebt in Frankfurt.

Katrin Binner/laif

Susanne Schröter ist 1957 in Niedersachsen geboren. Sie studierte Anthropologie, Soziologie, Kultur- und Politikwissenschaften sowie Pädagogik. Sie ist Professorin am Institut für Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Direktorin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam. Schröter mischt sich beherzt in gesellschaftliche Debatten ein und kritisiert gelegentlich die eigene Zunft. 2019 erschien ihr Buch «Politischer Islam: Stresstest für Deutschland», darauf folgte nun im Juli «Allahs Karawane. Eine Reise durch das islamische Multiversum». Schröter lebt in Frankfurt.

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Auf unserem Radar im Westen tauchten sie in den Neunzigern auf. Ihre Ideologie ist aber älter, oder?
Ihre Theologie haben die Taliban von der Deobandi-Bewegung in Indien. Sie bildete sich im 19. Jahrhundert nach dem Aufstand der Inder gegen die britischen Kolonialherren. Man versuchte, den Kolonialherren mit der Religion etwas entgegenzusetzen, es war eine antikoloniale Bewegung. Sie bekämpften gleichzeitig die friedfertige Strömung des Islam, die spirituellen Sufisten.

Wie lassen sich die Taliban in die islamistische Bewegung als Ganzes einordnen?
Sie sind Teil des politischen Islams, des Islamismus, wie er gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand. Der Zusammenbruch des Osmanischen Reichs und der Aufstieg der Europäer zur neuen Supermacht stürzte die islamische Welt in eine Krise. Weltweit mussten die islamischen Theologen nun eine Erklärung finden: Warum hatte Gott sie verlassen? Die Antwort war: Nicht Gott war schuld. Die Gläubigen waren vom wahren Weg Gottes abgewichen. Deshalb sollten sie sich fortan rigoros seinen Geboten unterwerfen.

Was führte zur Taliban-Organisation, wie wir sie heute kennen?
Die sowjetische Besetzung Afghanistans zwischen 1979 und 1989, das Land war im Bürgerkrieg versunken, die Zivilbevölkerung litt. Die Taliban versprachen Frieden. Sie riefen gegen die Russen einen heiligen Krieg – Dschihad – aus. Die Krieger rekrutierten sie aus Koranschulen. Daher der Begriff Taliban, Talib heisst Schüler. Gemeint sind Koranschüler.

Nach dem Einmarsch der USA 2001 schwächelten die Taliban einige Jahre lang. Warum stossen sie jetzt auf so wenig Widerstand in der Zivilbevölkerung?
Sie schliessen an eine alte afghanische Idee an: Der afghanische Boden darf nicht besetzt werden. Die Briten, die Sowjets und jetzt die westliche Allianz unter Führung der USA sind gescheitert. Man empfand sie alle als Besatzer. Noch stärker in den letzten zwanzig Jahren, weil die westliche Allianz die Menschenrechte verletzte. Ihr Militär hatte Angst vor Anschlägen, tötete versehentlich Zivilisten, selbst an Hochzeiten, weil sie dort Terroristen vermuteten. Es gibt noch einen weiteren Grund.

Erzählen Sie.
Der Grossteil der Bevölkerung ist ländlich und ungebildet. Sie hören auf ihre Imame und Dorfvorsteher. Die Menschenrechte, die die Allianz zu etablieren versuchte, erscheinen vielen Afghanen als gotteslästerlich. Es gilt als unislamisch, sich als Frau dem Ehemann zu widersetzen. Es ist verbreitet, dass die Mädchen in der Pubertät verheiratet werden. Die Taliban docken an diese Traditionen an, stellen die alte Ordnung wieder her.

Die gleichen Taliban sagen nun aber, sie wollten Menschen- und Frauenrechte achten. Ein Bluff?
Das ist reine PR. Sie sagen, sie wollen die Rechte im Rahmen der Scharia achten. Sie brauchen Frauen, weil Männer nicht mit fremden Frauen Kontakt haben dürfen. Es braucht Lehrerinnen für Mädchen, Ärztinnen und Pflegerinnen und wie sie gerade bekannt gaben: Polizistinnen.

Das überrascht mich.
Mich nicht. Kennen Sie die Al-Khansaa-Brigade?

Nein.
Das ist die weibliche Polizei-Brigade des IS, sie war grausam. Ab 2014 hat sie in Syrien und im Irak Frauen verhaftet und in den Polizeigefängnissen gefoltert. Viele in der Brigade waren westliche Konvertitinnen.

Nun hört man, Frauen dürften bereits nicht mehr zur Arbeit. Mädchen würden für Vermählungen mit den Taliban eingesammelt. Ist es für Frauen tatsächlich so gefährlich?
Die Lage der Frauen ist katastrophal.

Die einzige afghanische Bürgermeisterin Zarifa Ghafari hat es mittlerweile nach Deutschland geschafft. Wie ist die Situation für Journalistinnen, Menschenrechtsaktivistinnen und Politikerinnen?
Die Frauen fürchten um ihr Leben. Viele verstecken sich oder sind schon im Ausland. Aber für solche in politischen Ämtern war es vorher schon schwierig. Zarifa Ghafari war stark gefährdet. Es dauerte ein Jahr, bis sie ihr Büro betreten konnte, weil eine Gruppe bewaffneter Männer ihr den Zugang verwehrte. Es gab Anschläge auf sie.

Ghafari gehört zu einer Elite. Was ist mit den anderen Frauen, wollen diese überhaupt mehr Rechte?
Die Mehrheit der Afghaninnen ist für die traditionelle patriarchalische Ordnung, das habe ich durch meine Interviews mit afghanischen Frauen und Mädchen erfahren. Für sie ist eine Frau wie ein Edelstein oder eine kostbare Blume und muss geschützt werden. Das würden wir bei uns als Bevormundung empfinden.

Sind diese Frauen glücklich?
Nein. Gerade viele junge Frauen leiden, weil sie unter der Fuchtel der Ehemänner und Schwiegermütter stehen. Ältere Frauen, die viele Söhne geboren haben, zu denen sie ein enges Verhältnis haben, deren Schwiegertöchter für sie arbeiten, profitieren vom System. Bei uns erlebt eine Frau mit dem Älterwerden das Gegenteil: einen Statusverlust – durch Scheidung, durch tiefe Renten. Nicht alle afghanischen Frauen wollen nach Europa kommen, um der Unterdrückung zu entfliehen, das ist ein Zerrbild.

Was genau erwartet ein afghanisches Mädchen?
Unterwürfigkeit, Schamhaftigkeit und die ständige Sorge um die eigene Ehre. Wenn es in die Pubertät kommt, sind alle ganz aufgeregt, weil schon ein falscher Blick eines Fremden dazu führen kann, dass die Familienehre gefährdet ist. Meistens verheiratet man die Frauen innerhalb der Verwandtschaft. Ein grosses Problem ist die Gewalttätigkeit vieler Männer. In einer Koran-Sure steht, dass Gott von den Frauen Gehorsam gegenüber den Männern verlangt. Wenn sie das nicht sind, dürfen sie geschlagen werden.

Was hat die westliche Allianz für die Frauen erreicht?
Bildung. Es gibt mittlerweile hochgebildete Frauen in Afghanistan. Was tun jetzt diese Mädchen und Frauen? Die Taliban werden nur Religionsschulen betreiben.

Allein aus der Schweiz sind Entwicklungshilfegelder in der Höhe von rund 500 Millionen Franken in das Land geflossen. War das alles umsonst?
Das muss man sich fragen. Das Nation Building – der Export der westlichen Werte, die Demokratie, universelle Menschenrechte –, wie es die Allianz betrieben hat, ist gescheitert. Keiner hat die Afghanen gefragt, was sie möchten.

Welche Folgen könnte der Sieg der Taliban für uns in Europa haben?
Der Islamismus wird auch bei uns erstarken, so fürchte ich. Wir merken das jetzt schon in auf Social Media.

In der Schweiz freute sich ein ehemaliger Imam aus dem Kanton Zürich auf Facebook darüber, dass das afghanische Volk das Vermächtnis der Besiegten niederreisse.
Selbst grosse islamische Organisationen freuen sich: Seht her, der Islam hat gesiegt. Nun könnten auch islamistische Gruppen bei uns Zulauf haben. Vielleicht auch der IS oder Al-Kaida.

Was raten Sie dem Westen: Wie soll er sich nun verhalten?
Er sollte seine Wunden lecken und alle Fehler schonungslos aufarbeiten.

Derzeit wird diskutiert, ob man das afghanische Volk trotz Taliban-Regime unterstützen soll. Die Schweiz will mit der Entwicklungshilfe weitermachen. Ist das der richtige Weg?
Kann man dieses System finanziell unterstützen?

Was sagen Sie?
Eigentlich nicht.


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