Hier bricht der Gletscher in den Dolomiten
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Ausmass der Lawine sichtbar:Hier bricht der Gletscher in den Dolomiten

Eissturz in den Dolomiten – keine Hoffnung für die 13 Vermissten
Könnte das Unglück auch in der Schweiz passieren?

Der Gletscherabbruch an der Marmolata in den italienischen Dolomiten schockt die Bergwelt. Auch in der Schweiz gibt es gefährliche Gletscher. ETH-Glaziologe Daniel Farinotti (40) erklärt, wo die Bedrohung am grössten ist.
Publiziert: 06.07.2022 um 10:53 Uhr
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Aktualisiert: 06.07.2022 um 13:30 Uhr
Myrte Müller

Am Sonntagmittag bricht an der Marmolata ein Eisturm von der Gletscherkante. Eis-, Schnee- und Geröllmassen überrollen den viel begangenen «Normalweg» zum Gipfel und reissen zwei Seilschaften mit. Die traurige Bilanz bislang: sieben Tote und acht Verletzte (Blick berichtete). 13 Menschen werden noch vermisst. Die Bergungsarbeiten sind riskant. Denn es werden weitere Eisbrüche befürchtet.

Zur gleichen Zeit drohen 400'000 Kubikmeter Eis an der italienischen Flanke des Mont Blanc auf ein Dutzend Häuser zu stürzen. Die Gemeinde Courmayeur (I) lässt am Dienstag das bei Touristen beliebte Ferret-Tal evakuieren.

Einige Gletscher unter Beobachtung

Auch in der Schweiz sind Tausende Berggänger in den Alpen unterwegs. Wie gefährlich sind die Gletscher-Touren? Kann ein Unglück wie an der Marmolata auch bei uns passieren? Blick fragt den Glaziologen Daniel Farinotti (40). «Dort, wo es am Gletscher eine Geländekante gibt, können auch Eisblöcke – sogenannte Seracs – abbrechen»,», sagt der Professor an der ETH Zürich und am Eidgenössischen Forschungsinstitut für Wald, Schnee und Landschaft. Normalerweise seien die Abbrüche allerdings nicht so gross wie jener an der Marmolata. Ein solcher Eisbruch ereignete sich am 27. Mai 2022 am Walliser Gletscher des Grand Combin (4314 m). Zwei Menschen starben, neun wurden verletzt (Blick berichtete).

Insgesamt waren am 27. Mai 2022 sieben Helikopter im Einsatz, um die Opfer eines Gletscherbruchs zu bergen. Zwei Menschen starben, neun wurden verletzt.
Foto: Luisa Ita
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In der Schweiz gibt es 1400 Gletscher. «Die meisten von ihnen sind aufgrund ihrer Topografie nicht gefährlich», erklärt der Wissenschaftler. ««Einige Dutzend werden jedoch beobachtet, weil sie bei grösseren Eisabbrüchen Infrastrukturen wie Strassen, Schienen, Siedlungen gefährden könnten.» Dazu gehörten beispielsweise der Hängegletscher am Weisshorn (4505 m) im Mattertal, der abzubrechen droht, sowie der Mattmark-Gletscher im Saastal, wo 1965 eine Eislawine die Baracken der Mattmark-Baustelle verschüttete und 88 Menschen unter sich begrub. Im Visier sind auch der Bündner Cambrena-Gletscher, die Walliser Bisgletscher und Schwarzberggletscher und der Gutzgletscher im Berner Oberland.

Schwierig, vor Eisstürzen zu warnen

Wie an der Marmolata führen in der Schweiz Routen durch riskantes Gebiet. Ein Beispiel: der Triftgletscher am Weissmies (4017) im Wallis. Der leichtere Normalweg führt direkt unter einer Geländekante in der Mitte des Gletschers vorbei. «Besonders beim Abstieg wird diese Standardroute genutzt», sagt der Glaziologe weiter. Die meisten der gefährlichen Gletscher befänden sich im Wallis, weil es dort die höchsten Berge und somit die grössten Gletscher hat. Aber auch Gletscher vom Berner Oberland und dem Engadin stehen auf der Inventarliste für gefährliche Gletscher.

Trotz der Messungen am Gletscher sei es schwierig, vor Eisstürzen zu warnen, sagt Daniel Farinotti. «Wenn ein Bruch beispielsweise am Gletscherbett passiert und nicht im Eis, kann das nicht vorhergesehen werden.» Wärme durch den Klimawandel würde solche Phänomene begünstigen. Es läge auf der Hand, dass die an der Marmolata kurz vor dem Gletscherbruch gemessenen Rekordtemperaturen eine Rolle gespielt haben, sagt der Glaziologe, da Wasser wie ein Gleitmittel für die Gletscherbewegung wirke.

Doch die Erderwärmung würde auch Eisbrüche reduzieren. «Die Gletscher ziehen sich zurück und werden dünner. In erster Linie ist die Eisbewegung aber proportional zur Eismächtigkeit. Das heisst, dass dünnere Gletscher weniger schnell fliessen und damit auch weniger Eisabbrüche verursachen können.» Der Gletscher-Experte rät: «Wer sich in Gletschergebiet begeben will, sollte ortskundige Bergführer anfragen.» Ein Restrisiko jedoch würde immer bleiben.

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