Normalerweise bleiben Mafiosi unsichtbar
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Mafia-Expertin erklärt:Normalerweise bleiben Mafiosi unsichtbar

Ehefrau des Beschuldigten packt aus
So lief die Mafia-Razzia in der Schweiz

Sie kamen nachts und schlugen zu. In einer Grossrazzia gingen die Behörden in Italien und in der Schweiz gegen die Mafia vor. Die Zielkantone bei uns: Tessin, Aargau, Solothurn und Zug.
Publiziert: 22.07.2020 um 23:08 Uhr
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Aktualisiert: 30.03.2021 um 11:58 Uhr
Myrte Müller, Ralph Donghi

Still ist es im Gewerbegebiet am Rand von Lugano TI. Kurz vor drei Uhr schleichen sich in der Nacht auf Dienstag rund zehn Beamte in ein Mehrfamilienhaus. Vor der 4,5-Zimmer-Wohnung von Gemeindearbeiter Fiorenzo G.* (60) halten sie kurz inne. Dann brüllen die Männer: «Feuer, Feuer!»

Bewohnerin Carolina G.* (53) erinnert sich: «Sie bollerten gegen unsere Tür, wir öffneten. Da stürmten sie auch schon in unsere Wohnung.» Doch es gibt keinen Brand im Haus. «Sie wollten zu meinem Mann», so die Kalabresin zu BLICK. Auch sie und die beiden Söhne (19 und 29) werden nicht verschont: «Sie legten uns alle in Handschellen.»

Die folgenden Stunden sind wie im Film. «Die Polizisten haben alles durchsucht, die Wäsche aus den Schränken gerissen. Die ganze Wohnung war auf den Kopf gestellt. Sogar den Keller durchwühlten sie. Wir waren zu Tode erschrocken», so die Italienerin. Die Beamten finden Pistole und Gewehr. Doch: Fiorenzo G. hat einen Waffenschein. Er wird mitgenommen und befragt. Wenig später lässt man ihn wieder frei.

Bei Razzien gegen die Mafia-Organisation 'Ndrangheta kam es in der Schweiz und in Italien zu 75 Festnahmen. Beteiligt an der Aktion waren insgesamt etwa 700 Beamte.
Foto: Screenshot youtube
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Wahl-Tessinerin verneint Kontakte zur Mafia

«Die Polizei hat bei uns nichts Verbotenes gefunden», sagt die Wahl-Tessinerin und fügt an: «Wenn wir Mafiosi wären, dann bräuchte ich nicht jeden Morgen um fünf Uhr aufzustehen, um bei fremden Leuten putzen zu gehen.»

Die Razzia in Lugano ist nicht die einzige Aktion in der Schweiz. Auch in Solothurn, Zug und im Aargau schlagen die Ermittler am frühen Dienstag zu. In Muri AG stehen der Bau-Unternehmer Francesco B.* (53) und der Gastronom Paolo M.* (54) im Visier der Ermittler. Zusammen mit dem Tessiner Gemeindearbeiter haben sie eine direkte Verbindung zu den 'Ndrangheta-Clan-Brüdern Rocco (59) und Tommaso Anello (56). Man kennt sich aus der Heimat: Sie stammen aus dem kalabrischen Filadelfia.

In der Mafia-Region schwirrten 700 Beamte aus, konfiszieren drei Ferienresorts, verschiedene Restaurants, Häuser, Grundstücke, Nobelkarossen und Barvermögen. Gesamtwert: 169 Millionen Euro.

«Argus» im Sondereinsatz

Die Razzia in Muri war laut BLICK-Informationen eine echte Geheimoperation. Der Bund hat sie erst kurz vor dem Zugriff im Aargau angekündigt. Und: Die erst kürzlich zur besten Polizei-Sondereinheit der Welt gekürte Truppe Argus kümmerte sich um die Mafiosi. Sie hatten nach dem erfolgreichen Zugriff den oder die Verdächtigen auch gleich per Kastenwagen nach Bern gefahren.

Insgesamt läuft gegen sechs Männer in der Schweiz ein Strafverfahren. Die Vorwürfe: Waffen- und Drogenhandel, Schmuggel von Falschgeld sowie Geldwäsche. So seien konkret Waffen für den Anello-Clan verschoben worden, um Morde zu verüben oder Erpressungsopfer einzuschüchtern. Laut «Lacnews24» nannten die Mafiosi Patronen «Konfetti» und Gewehre «Reifen», um bei Abhörmassnahmen nicht aufzufallen.

Ober-Pate soll Clubs in Bülach ZH und Schaffhausen besitzen

Immer wieder flossen auch grosse Geldmengen von der Schweiz nach Filadelfia. Falschgeld hingegen wurde in Liechtenstein gewaschen. Die Schweiz Connection soll es laut kalabresischen Medien bereits seit über 20 Jahren geben. Und: Es soll einem verdeckten Ermittler sogar gelungen sein, in das direkte Aktionsfeld der Schweizer Mafia-Zelle eingedrungen zu sein. So erfährt der Spitzel: Ober-Pate Rocco Anello besitzt zwei Clubs in der Schweiz, in Bülach ZH und in Schaffhausen.

Der Anti-Mafia-Einsatz bleibt in Muri nicht lange ein Geheimnis. Auch weil die Baufirma von Francesco B. und die Pizzeria von Paolo M. direkt nebeneinanderliegen. Eine Nachbarin zu BLICK: «Ich war um sechs Uhr früh joggen. Da standen weit über zehn Polizeiautos auf den Parkplätzen hinter dem Restaurant.» Ein anderer Nachbar erinnert sich an auffällige Boliden im kleinen Dorf: «Vor dem Restaurant konnte man immer Luxusschlitten und Sportwagen beobachten.»

Freunde ja, Mafia nein

Tarnten sich die Mafiosi also nur als ordentliche Mitbürger? Der Tessiner Gemeindearbeiter Fiorenzo G. gibt gestern gegenüber «La Regione» zu: «Rocco Anello kenne ich gut, er ist ein sehr enger Freund von uns.» Aber mit den schmutzigen Geschäften des Mafia-Bosses habe er nichts zu tun. Der Kalabrese gibt sein Ehrenwort: «Alles, was ich besitze, ist durch ehrliche Arbeit verdient.»

* Namen von der Redaktion geändert

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