Die Schweizer Krankheit
Wie sich Heimweh zum Weltschmerz entwickelte

Die Sehnsucht nach der Schweiz führt zu Fieber, Entkräftung und zum Tod – das lehren alte Medizinbücher. Da schon helvetische Söldner in fremden Diensten davon befallen waren, heisst sie auch Schweizer Krankheit. Heute erobert Heimweh die Charts. Eine Leidensgeschichte.
Publiziert: 01.08.2021 um 12:10 Uhr
Eidgenossen in fremden Diensten: Die päpstliche Schweizergarde im Vatikan.
Foto: AP
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Daniel Arnet

Sehnsucht nach der Heimat ist ein Ohrwurm. 2007 stürmt die Berner Oberländer Band Plüsch mit der Single «Heimweh» die Schweizer Charts: «Un i ha Heimweh nach de Bärge, nach de Schoggi und äm Wii, nach de Wälder, nach de See u nach em Schnee.» Und der Berner Georg Schlunegger (40) nennt seinen Männerchor gleich Heimweh, erklimmt mit dem Debütalbum «Heimweh» 2016 Platz drei der heimischen Hitparade und bleibt 119 Wochen in den Top 100 – Doppelplatin!

Liebe geht durch den Magen, Schaden ins Auge und Heimweh in die Ohren: Keinen der Sinne spricht das Zehren nach dem Herkunftsland mehr an als das Gehör. Und kaum ein Land ist mit mehr heimatlichen Klängen gesegnet als die Schweiz: vom Juchzer über den Jodel bis zum Alphorn, den Kuh- und Kirchenglocken. Und natürlich kann auch die Nationalhymne durchs Ohr direkt zu Herzen gehen, Emotionen auslösen und einen zu Tränen rühren.

«Zu Strassburg auf der Schanz, / Da ging mein Trauren an, / Das Alphorn hört ich drüben wohl anstimmen, / Ins Vaterland musst ich hinüber schwimmen, / Das ging nicht an.» So beginnt das Klavierlied «Der Schweizer» aus «Des Knaben Wunderhorn» vom österreichischen Komponisten Gustav Mahler (1860–1911). Dem Soldaten in fremden Diensten misslingt die Flucht rheinaufwärts, und er kommt vor ein Schiesskommando.

Blutzirkulation der Schweizer behindert

Heimweh ist tödlich. Das beschreibt der Luzerner Heerführer Ludwig Pfyffer (1524–1594) schon 1569 in einem Brief, worin er den Tod eines Söldners nach der Schlacht von Jarnac (F) zu beklagen hat: «… der Sunnenberg gestorben von heimwe …» Dass sich dieser Sunnenberg aufseiten der französischen Armee im Kampf gegen die Hugenotten schwer verletzt hat, erwähnt Pfyffer nur am Rand. Denn das Heimweh gilt per se als tödliche Krankheit.

Es ist der Mülhausener Mediziner Johannes Hofer (1669–1752), der sie erstmals 1688 in seiner Basler Dissertation beschreibt und ihr den Namen «Nostalgia» gibt. Der Zürcher Arzt Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) regt die Diskussion weiter an: Während Hofer die Ursache für Heimweh im Gehirn verortet, gibt Scheuchzer die Schuld dem Luftdruck, der in flachen Ländern höher sei als in den Alpen und deshalb die Blutzirkulation der Schweizer, die «den obersten Gipfel von Europa» bewohnen, behindere.

So macht sich das Heimweh als «morbus helveticus», als Schweizer Krankheit, einen Namen, weil besonders viele Eidgenossen im Ausland darunter leiden und Zeichen von Entkräftung und Fieber zeigen. Sie verdingen sich im 18. Jahrhundert als Soldaten und Leibwächter an europäischen Fürstenhöfen, bei französischen Königen und beim Papst. Schweizer ist für sie eine eigentliche Berufsbezeichnung.

Heimweh wird zum Weltschmerz

Am französischen Hof sei es den Schweizern unter Androhung der Todesstrafe verboten, das Guggisberglied und den Ranz des vaches (das traditionelle Hirtenlied Kuhreihen) zu singen – so das Gerücht. Tatsache ist, dass der Basler Mediziner Theodor Zwinger (1658–1724) in seiner Sammlung «Fasciculus Dissertationum Medicarum Selectiorum» (1710) die Behauptung aufstellt, der Kuhreihen löse Heimweh aus und verleite Schweizer Soldaten in fremden Diensten zur Fahnenflucht.

«Lioba, Lio-o-ba!» Wenn ein Sänger irgendwo auf der Welt diese wenigen Silben aus dem Refrain des Ranz des vaches anstimmt, verstummen alle rundherum, um danach die Worte im Chor zu wiederholen. Ein Herz aus Stein muss haben, wen dieses Lied nicht anrührt! An der Fête des Vignerons, dem Winzerfest in Vevey VD, ist das im Freiburger Patois gesungene Chorstück jeweils der Höhepunkt. Und es mag in der Arena mit den mehreren Tausend Zuschauern noch so heiss sein, es läuft einem beim Zuhören kalt den Rücken runter.

Gemäss dem Historischen Lexikon der Schweiz ist der Kuhreihen erstmals 1545 als Instrumentalmelodie belegt. Hirten übernehmen die Melodie für ihr Lied «Har Chueli, ho Lobe», um die Kühe (auch Lobe genannt) auf der Weide einzutreiben, in eine Reihe zu locken und fürs Melken zu beruhigen. Der Kuhreihen findet später Eingang in viele Kompositionen vom Klassiker Ludwig van Beethoven (1770–1827) bis zum Romantiker Robert Schumann (1810–1856) – die Schweizer Krankheit Heimweh ist jetzt ein Weltschmerz.


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