Die schrägsten Erlebnisse in 20 Jahren Dunkelrestaurant Blinde Kuh
Eingeschlafener Schüler und missglücktes Blind Date

Vor genau 20 Jahren öffnete das weltweit erste 
Dunkelrestaurant in Zürich seine Tore. Die Pioniere 
erzählen von Sensibilisierung und Sauglattismus der Gäste.
Publiziert: 07.09.2019 um 14:27 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2019 um 09:40 Uhr
Das Gebetshaus der evangelisch-Methodistischen Kirchgemeinde im Zürcher Seefeld beherbergt seit 1999 das Dunkelrestaurant Blinde Kuh.
Foto: Siggi Bucher
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Daniel Arnet

Es ist dunkel wie in einer Kuh. Das Kalbstatar zur Vor­speise ist zunächst nur schlabberig, «gschtabig» der Umgang mit dem Besteck. Beim See­teufel zur Hauptspeise ist der Duft dominanter, die Handhabung der Gabel bereits behänder. Und den Wein schenkt man sich nach gut ­einer Stunde in der Finsternis ohne zu verschütten schon selber ein.

Willkommen in der Blinden Kuh in Zürich, dem weltweit ersten Dunkelrestaurant. Am 17. September feiert es seinen 20. Geburtstag. Gegen 30 000 Gäste lassen sich Jahr für Jahr auf das Experiment ein, essen im stockdunklen Saal eine Mittag- oder und Abend­mahlzeit und lassen sich dabei von Blinden bedienen.

«Das Auge isst mit», ein geläufiges Motto in der Gastronomie, ist hier ausser Kraft gesetzt. In der Blinden Kuh soll man sich in die Welt der Blinden versetzen. Dieses kulinarische Erlebnis macht hell­hörig, feinfühlig und schärft vor allem Geruchs- und Geschmackssinn. Ein Fest für Nase und Zunge.

Alles begann 1998 mit dem «Dialog im Dunkeln»

Die Pioniere aus Zürich haben mittlerweile weltweit Nachahmer: 2001 eröffnet die UnsichtBar in Köln (D), 2003 The Dark Side in Sydney (AUS), und seit 2005 gibt es in Los Angeles (USA) das Opaque. Im gleichen Jahr geht in Basel eine zweite Blinde Kuh an den Start – und der Duden führt das Wort «Dunkelrestaurant» als Begriff auf.

Stefan Zappa (59), schwer seh­behinderter Mitbegründer des Zürcher Speiselokals und heutiger Geschäftsführer der Stiftung Blinde Kuh, schätzt, dass es mittlerweile über hundert solcher Dunkelrestaurants auf der ganzen Welt gibt.

Beizen mit Behinderten

Reiben, Klären, Passieren, Binden, Reduzieren: Die ­Küchensprache kennt Fachbegriffe, die auch in der ­Sozialhilfe Anwendung finden könnten. Kein Wunder, sind Restaurant-Betriebe in der Integration gesellschaf­licher Randgruppen führend. Das Werkheim in Uster ZH betreibt vor Ort das 8610 Restaurant, in dem Menschen mit Beeinträchtigung und erfahrene Fach­angestellte Hand in Hand ­arbeiten und für weit herum beliebte Speisen sorgen. Die Trinamo AG mit Hauptsitz in Aarau hat im ganzen Kanton zehn Lokale, in denen Langzeitarbeitslose und beeinträchtigte Menschen mitarbeiten können. Die Brasserie Barracuda in Lenzburg AG brachte es mit Kochkünsten zu einem Eintrag im «Gault Millau». Behinderte und nicht behinderte Menschen zusammenführen, das ist das erklärte Ziel des 2016 eröffneten ­Restaurants Hans & Heidi in Wohlen AG, das die ­Integra Freiamt betreibt. Das Hotel Des Alpes in Düdingen FR bildet seit über 20 Jahren Langzeit­arbeitslose aus, damit sie dauerhafte Anstellungen in gastgewerblichen Betrieben finden können. Bereits seit 1994 führt die Stiftung Arbeits­kette Gastrobetriebe wie die Krone Altstetten und die Alpenrose in Zürich oder das Stürmeierhuus in Schlieren ZH. Die Lokale stehen unter der Leitung qualifizierter Gastroprofis, während in der Bedienung Menschen mit IV-Leistung arbeiten.

Reiben, Klären, Passieren, Binden, Reduzieren: Die ­Küchensprache kennt Fachbegriffe, die auch in der ­Sozialhilfe Anwendung finden könnten. Kein Wunder, sind Restaurant-Betriebe in der Integration gesellschaf­licher Randgruppen führend. Das Werkheim in Uster ZH betreibt vor Ort das 8610 Restaurant, in dem Menschen mit Beeinträchtigung und erfahrene Fach­angestellte Hand in Hand ­arbeiten und für weit herum beliebte Speisen sorgen. Die Trinamo AG mit Hauptsitz in Aarau hat im ganzen Kanton zehn Lokale, in denen Langzeitarbeitslose und beeinträchtigte Menschen mitarbeiten können. Die Brasserie Barracuda in Lenzburg AG brachte es mit Kochkünsten zu einem Eintrag im «Gault Millau». Behinderte und nicht behinderte Menschen zusammenführen, das ist das erklärte Ziel des 2016 eröffneten ­Restaurants Hans & Heidi in Wohlen AG, das die ­Integra Freiamt betreibt. Das Hotel Des Alpes in Düdingen FR bildet seit über 20 Jahren Langzeit­arbeitslose aus, damit sie dauerhafte Anstellungen in gastgewerblichen Betrieben finden können. Bereits seit 1994 führt die Stiftung Arbeits­kette Gastrobetriebe wie die Krone Altstetten und die Alpenrose in Zürich oder das Stürmeierhuus in Schlieren ZH. Die Lokale stehen unter der Leitung qualifizierter Gastroprofis, während in der Bedienung Menschen mit IV-Leistung arbeiten.

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Ein richtiger Siegeszug, der mit einer erfolgreichen Ausstellung begann: «Dialog im Dunkeln» hiess die Schau von Martin Heller, Eva Afuhs und Eva Keller, die das ­Museum für Gestaltung Zürich im Frühjahr 1998 zeigte. Eine Wohnung, eine Bar, ein Natur- und ein Stadtraum – alles vollkommen im Dunkeln. Blinde führen sicher durch den Parcours.

«Innert Kürze waren alle Füh­rungen ausgebucht», sagt Zappa. 16 000 Personen sahen nichts und erlebten umso mehr. Zappa und drei blinde Mitstreiter, darunter der heutige evangelische Pfarrer Jürg Spielmann (56) von Bülach ZH, wussten: Wir müssen dieses Interesse für unsere Anliegen raus aus dem musealen Umfeld in den realen Alltag tragen.

Essen müssen alle. Was liegt da näher, als ein Restaurant zu gründen? Mit der Bar in der Ausstellung sammelten die Initianten dies­bezüglich schon erste Erfahrungen. Und Spielmann kannte eine mögliche Lokalität: die Inselhof-Kapelle am Hornbach im Zürcher Seefeld, das frühere Gebetshaus der evangelisch-methodistischen Kirchgemeinde.

War der Kirche als Besitzerin der Liegenschaft der geplante Weinausschank anfangs ein Dorn im Auge, einigte man sich schliesslich, und der Betrieb mit Alkoholpatent konnte am 17. September 1999 beginnen. Mit dem Adressstamm der ­Besucher von «Dialog im Dunkeln» waren die zunächst 40 Plätze im Speiselokal Abend für Abend aus­gebucht.

Über eine halbe Million Gäste im ersten Dunkelrestaurant

Als künstlerischer Leiter der Landesaustellung Expo.02 sorgte Martin Heller (66) für einen Auftritt der Blinden Kuh auf der Arteplage in Murten FR. Diese Schwarzpause prägte 2002 nochmals eine Viertelmillion Besucher landesweit, sensibilisierte sie für die Anliegen der Blinden und steigerte die Nachfrage im Zürcher Dunkelrestaurant.

Die Blinde Kuh verdoppelte die Sitzkapazität, sodass heute an zwölf Tischen 80 Personen Platz nehmen können. An Wochenenden ist das Lokal ausgebucht, unter der Woche zu 50 bis 80 Prozent besetzt. Seit 2004 ist der Betrieb kostendeckend. Bis Ende 2018 zählt die Blinde Kuh in Zürich 510 000 Gäste, die einen Umsatz von 34,5 Millionen Franken einbrachten. Das Basler Pendant setzt seit 2005 mit 185 000 Gästen 17,6 Millionen Franken um.

«Mehr als ein Restaurant» preist sich die Blinde Kuh im Untertitel an, doch wirtschaftlich will sie ein ganz normales Wirtshaus sein. «Wir sind keine geschützte Werkstatt», sagt Betriebsleiter Adrian Schaffner (62). «Wir zahlen ganz normale Gastrolöhne.» Die beiden Restaurants haben je 28 Angestellte, in ­Zürich sind 14 davon blind oder sehbehindert, in Basel sind es 7.

Die stark sehbehinderte Win­terthurerin Janka Reimmann (44) arbeitet seit 1999 ein- bis zweimal pro Woche als Serviceangestellte in Zürich. Mit den Händen an ihren Schultern führt sie eine gemischte Gästeschar, darunter etwa ein ­Drittel Touristen, in einer Art Polonaise an die Plätze im pechschwarzen Esssaal. Dort arbeiten noch zwei weitere blinde Personen in der Bedienung, plus eine hinter der Ausgabebar, wo das Essen aus der Küche mit den sehenden Köchen hinkommt.

Für die Gäste kann der Übergang in die Finsternis zuweilen beklemmend sein. «Ich hatte einmal eine Frau, die war früher in eine Lawine geraten», sagt Reimmann. «Die wollte sofort wieder raus und musste sich dort zuerst beruhigen.» Überhaupt ist der Gästeaufwand wesentlich grösser als in einem normalen Restaurant. So muss das Personal jeden Gast, der aufs WC muss, rausführen.

«Ich hatte einmal einen Gast, der behauptete, er habe kein Entrecôte bekommen», sagt Cornelia Zumsteg (71), die wie Reimmann seit 1999 in der Blinden Kuh bedient. «Ich dachte zuerst, er mache einen Scherz.» Da spürte sie etwas Weiches unter ihrem Schuh. Natürlich bekam der Mann, dem durch den ungelenken Umgang mit dem Besteck im Dunkeln dieses Miss­geschick passierte, umgehend ein neues Stück Fleisch.

«Wir Blinden und Sehbehinderten bewegen uns im Hellen»

Unabsichtlich fallen vielen Gästen vor allem Servietten auf den Boden – doch manchmal bewerfen sie sich bewusst gegenseitig damit, manchmal selbst mit Esswaren. Der Sau­glattismus sei vor allem in Grossgruppen ein Problem. In jüngster Zeit ist ein weiteres dazugekommen: Trotz Handyverbot in der Dunkelkammer machen Gäste manchmal ein Selfie.

«Mein Leben ist nicht wie in der Blinden Kuh», sagt Reimmann. Und Zappa ergänzt: «Ja, denn wir Blinden und Sehbehinderten bewegen uns im Hellen.» Wenn sie in ein beleuchtetes Restaurant gehen und dort mit den Händen essen oder nur schon eine Serviette auf den Boden werfen würden, sähen sich alle anderen nach ihnen um und würden sich über die fehlenden Manieren beschweren.

Der Putzbedarf im Esssaal der Blinden Kuh ist vor allem nach Schulklassen gross, wenn die zu Mittag einen Spaghetti-Plausch hatten. Einmal sei eine Klasse rausgekommen, so erinnert sich Reimmann, und die Reinigungsleute hätten sogleich die Raumbeleuchtung angemacht – da sei noch ein schlafender Knabe am Tisch gesessen. Sofort habe man das Licht wieder gelöscht.

«Wir zeigen den Raum nie und niemandem erleuchtet», sagt Zappa, «denn Blinde können auch nicht einfach auf den Schalter drücken und Licht machen.» Bei ihnen bleibt es dunkel. Die sehenden Gäste sind umso dankbarer, wenn sie raus­geführt werden und wieder im erleuchteten Eingangsbereich stehen. «Dort rufen sie ofmals erleichtert aus: Gott sei Dank sehe ich wieder», sagt Cornelia Zumsteg.

Einmal führte Zumsteg ein Pärchen raus, das im Dunkelrestaurant passenderweise zu einem Blind Date verabredet war. Wieder draussen im Licht stehend, sagte die Frau erschrocken zum Mann: «Jesses, du bist ja anderthalb Köpfe kleiner als ich!» Manchmal ist es eben ­besser, man sieht nicht alles.

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