Die Luzernerin Cindy Kronenberg (28) gibt Opfern von sexueller Gewalt eine Stimme
Vergewaltigt, gedemütigt – aber nicht gebrochen

Wie ihr geht es leider vielen Frauen. Doch den meisten fehlt die Kraft, darüber zu sprechen. Cindy Kronenberg (28) wurde vergewaltigt. Doch die junge Frau hat ihre Opferrolle abgelegt und kämpft nun gegen das Tabuthema sexuelle Gewalt.
Publiziert: 04.01.2021 um 01:30 Uhr
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Aktualisiert: 01.02.2021 um 15:58 Uhr
Anian Heierli

Sie sagte: «Nein», «Ich will das nicht» und «Sonst beisse ich dich». Doch geholfen hat es alles nichts. Cindy Kronenberg (28) wurde vergewaltigt. Die Tat passierte in einer warmen Sommernacht im Luzerner Vögeligärtli auf einer Parkbank. Das war vor gut fünf Jahren. Zuerst hatte sie Mühe, das Erlebte zu akzeptieren und einzuordnen. Erst nach zwei Jahren machte sie eine Anzeige. In dieser Zeit fragte sie sich immer wieder, wie konnte mir das nur passieren.

Mittlerweile akzeptiert sie die Tat. Die junge Frau hat den Mut, in der Öffentlichkeit darüber zu reden. «Ich will andere Betroffene unterstützen, indem ich über das Tabuthema sexuelle Gewalt spreche», sagt sie zu BLICK. Mit 85,9 Prozent ist die Aufklärungsrate bei Vergewaltigungen zwar hoch. Dass aber nur jede zehnte Vergewaltigung anzeigt wird, ist jedoch den wenigsten bewusst (siehe Box). Zu gross ist die Angst vor der sozialen Stigmatisierung. Etwa, dass einem nicht geglaubt oder dem Opfer noch eine Mitschuld gegeben wird.

«Ich hatte keinen Notfallplan»

So fehlte auch Kronenberg anfangs die Kraft, ihren Täter anzuzeigen. «Vielleicht aus Scham», sagt sie. «Ich fühlte mich immer als starke Frau. Ein Teil von mir gab sich eine Mitschuld, da ich mich nicht erfolgreich wehren konnte.» Zwar sagte sie mehrmals klar: «Nein.» Doch schreien konnte sie in diesem Moment nicht. «Ich hatte keinen Notfallplan für diese Situation.» Sie stellt klar: «Meistens stehen der Täter und die Tat im Mittelpunkt. Nicht aber das Opfer und die traumatischen Gefühle sowie die daraus resultierende belastende Situation.»

Cindy Kronenberg (28) wurde vergewaltigt. Sie hat das Erlebte überwunden und kann wieder lachen.
Foto: Anian Heierli
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Viele Vergewaltigungsopfer leiden während der Tat unter diesem Zustand der Schockstarre. «Zeitweise hatte ich das Gefühl, ich befinde mich ausserhalb meines Körpers», sagt sie. Irgendwann habe sie dann einfach still alles ertragen, bis es vorbei war. Ihren Vergewaltiger lernte sie erst kurz vor der Tat kennen – bis heute wurde er nicht gefasst und musste sich somit auch nicht für sein Vergehen verantworten.

In einem Onlinepost auf Facebook schreibt Kronenberg ihrem Vergewaltiger: «Bis heute wurdest du nicht gefunden und läufst frei herum. Du hast mich zwar zum Erstarren, Weinen und Verzweifeln gebracht. Doch dadurch habe ich mich intensiver mit mir auseinandergesetzt und durfte mich noch besser kennen- und lieben lernen.» Und: «Ich komme noch stärker aus der ganzen Sache heraus, als ich es zuvor war.»

Ihrem Vergewaltiger hat sie heute verziehen

Sie konnte ihrem Vergewaltiger die Tat sogar vergeben. Auf die Frage «Weshalb?» sagt sie: «Ich will nicht traurig und mit Wut, sondern mit guten Gefühlen durchs Leben gehen.» Mit dieser positiven Lebenseinstellung und ihrer persönlichen Erfahrung will sie nun anderen Betroffenen helfen, die Opfer von sexueller Gewalt wurden und Aufklärungsarbeit leisten. Kronenberg studierte Soziale Arbeit und baut gerade ein Netzwerk für Opfer auf.

Dazu hat sie den Verein vergewaltigt.ch gegründet. Auf der dazugehörigen Website finden Opfer von sexueller Gewalt weiterführende Informationen wie Anlaufstellen und Schritte der Verarbeitung. Es geht auch darum, innerhalb der Gesellschaft gegen das Tabuthema anzukämpfen. So hat die junge Frau aus Sursee LU selbst ein offenes Ohr für Menschen, die sich mit ihr austauschen möchten. «Es ist mir jedoch wichtig zu sagen, dass ich keine Psychotherapeutin bin», hält sie fest.

Mit ihrem Angebot will sie auch den bestehenden Organisationen wie der Opferhilfe keine Konkurrenz machen. Im Gegenteil: «Es ist ein ergänzendes Angebot. Als Betroffene habe ich nochmals einen anderen Zugang zum Thema.» Deshalb möchte sie auch ein «Austauschcafé» gründen, bei dem sich Opfer gegenseitig austauschen können.

Nicht die Tat steht im Vordergrund

Dabei geht es zum Beispiel um drängende Fragen wie: Soll ich es meinem Umfeld erzählen? Oder: Wie geht man im Alltag mit so einer Erfahrung um? Ihr ist es wichtig, dass nicht die Tat im Vordergrund steht, sondern lösungsorientierte Gespräche. Läuft alles nach Plan, kommen in einem nächsten Schritt dann Präventionskurse an Schulen dazu. Schon heute arbeitet Kronenberg dafür eng mit einer Psychologin zusammen.

Aktuell steckt sie ihre Energie aber in den Aufbau des Netzwerks: «Es ist ein Herzensprojekt für mich.» Mittels Crowdfunding sammelt sie Geld auf der Plattform Lokalhelden. Ihre Beweggründe sind löblich. «Jede zehnte Frau wird Opfer einer Vergewaltigung», sagt sie. Und erklärt ihr grosses Ziel: «Ich will nicht tatenlos zusehen und schweigen – sondern etwas dagegen tun!»

Jedes zweite Opfer schweigt

Sexuelle Gewalt ist in der Schweiz verbreiteter als gedacht. Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) wurden 2019 insgesamt 679 Vergewaltigungen angezeigt. Die Aufklärungsrate lag bei 85,9 Prozent. Hinzu kommen 626 Fälle von sexueller Nötigung. Auch hier war die Aufklärungsrate mit 84,5 Prozent relativ hoch. Dennoch gibt es immer wieder angezeigte Fälle, bei denen der Täter nicht gefunden wird. So etwa beim Vergewaltigungsfall von Emmen LU im Juli 2015.

Damals wurde eine 26-jährige Frau vom Velo gerissen und missbraucht. Das Opfer ist gelähmt. Der unbekannte Täter auf freiem Fuss. Zurzeit wird nicht mehr aktiv ermittelt. Dies, nachdem auch ein Massen-DNA-Test bei 400 Männern keinen Erfolg brachte. Was trotz bekannter oder angezeigter Taten oft vergessen geht, ist die grosse Dunkelziffer. Eine Studie der Forscher von GFS Bern lieferte erstmals genauere Zahlen zur Verbreitung von sexueller Belästigung und Gewalt in der Schweiz.

Im Frühjahr 2019 wurden 4495 Frauen und Mädchen ab 16 Jahren zur Thematik befragt. Mit erschreckenden Erkenntnissen: Jede fünfte Frau hat bereits ungewollte sexuelle Handlungen erlebt. Jede zehnte erlebte Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen. Ein Grossteil dieser Fälle bleibt aber unbekannt. In der Studie gaben 49 Prozent der Frauen an, sie hätten den Vorfall für sich behalten. Und: nur gerade 8 Prozent erstatteten Anzeige bei der Polizei. Heisst leider: Die Fälle, die tatsächlich in die Kriminalstatistik einfliessen, sind nur die Spitze des Eisbergs. Anian Heierli

Sexuelle Gewalt ist in der Schweiz verbreiteter als gedacht. Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) wurden 2019 insgesamt 679 Vergewaltigungen angezeigt. Die Aufklärungsrate lag bei 85,9 Prozent. Hinzu kommen 626 Fälle von sexueller Nötigung. Auch hier war die Aufklärungsrate mit 84,5 Prozent relativ hoch. Dennoch gibt es immer wieder angezeigte Fälle, bei denen der Täter nicht gefunden wird. So etwa beim Vergewaltigungsfall von Emmen LU im Juli 2015.

Damals wurde eine 26-jährige Frau vom Velo gerissen und missbraucht. Das Opfer ist gelähmt. Der unbekannte Täter auf freiem Fuss. Zurzeit wird nicht mehr aktiv ermittelt. Dies, nachdem auch ein Massen-DNA-Test bei 400 Männern keinen Erfolg brachte. Was trotz bekannter oder angezeigter Taten oft vergessen geht, ist die grosse Dunkelziffer. Eine Studie der Forscher von GFS Bern lieferte erstmals genauere Zahlen zur Verbreitung von sexueller Belästigung und Gewalt in der Schweiz.

Im Frühjahr 2019 wurden 4495 Frauen und Mädchen ab 16 Jahren zur Thematik befragt. Mit erschreckenden Erkenntnissen: Jede fünfte Frau hat bereits ungewollte sexuelle Handlungen erlebt. Jede zehnte erlebte Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen. Ein Grossteil dieser Fälle bleibt aber unbekannt. In der Studie gaben 49 Prozent der Frauen an, sie hätten den Vorfall für sich behalten. Und: nur gerade 8 Prozent erstatteten Anzeige bei der Polizei. Heisst leider: Die Fälle, die tatsächlich in die Kriminalstatistik einfliessen, sind nur die Spitze des Eisbergs. Anian Heierli

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