Der Vater floh vor den Nazis, die Tochter setzt sich für Holocaust-Überlebende ein
«Wir dürfen nie vergessen, wozu Menschen fähig sind»

Das Schweizer Judentum hat dort wichtige Wurzeln, wo Jonas Fricker herkommt – im Aargau. Umso mehr erstaunt seine unbedachte Äusserung.
Publiziert: 01.10.2017 um 10:43 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 01:25 Uhr
Aline Wüst

In der Pogromnacht von 1938, der sogenannten Reichskristallnacht, war Walter Strauss ein Bub. Er hat sich hinter dem Schrank versteckt. Später gelang ihm die Flucht in die Schweiz, nach Baden AG, wo er Verwandte hatte. Dort lebt er noch heute. Immer und immer wieder sagt er: «Wir dürfen nie vergessen.» Nie vergessen, wozu Menschen fähig seien.

Nationalrat Jonas Fricker ist auch aus Baden. Er hat sich vergangene Woche im Nationalrat vergessen. Ein Aargauer. Ausgerechnet. Jetzt hat er die Konsequenzen gezogen und seinen Rücktritt angekündigt.

Die Juden und der Aargau haben eine eng verknüpfte Geschichte. Bis vor 150 Jahren war es ihnen in der Schweiz einzig erlaubt, in Lengnau und Endingen zu leben. Zwei Aargauer Dörfer unweit von Baden. Bis zu 1500 Juden lebten dort, gesprochen wurde Surbtaler Jiddisch. Noch heute gibt es in Lengnau ein jüdisches Altersheim, in beiden Dörfern steht eine Synagoge.

Walter Strauss mit seiner Tochter Anita Winter, der Präsidentin der Gamaraal-Stiftung, die in einer Ausstellung die letzten Schweizer Holocaust-Über­lebenden zu Wort kommen lässt.
Foto: Beobachter/Joseph Khakshouri
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«Eine Katastrophe ist so etwas»

Jonas Fricker weiss das alles. Er ist zusammen mit alt Bundesrätin Ruth Dreifuss und alt Bundesrat Moritz Leuenberger im Patronatskomitee des Vereins Doppeltür. Ein 16-Millionen-Projekt, das auch vom Kanton unterstützt wird und zum Ziel hat, das Zusammenleben von Juden und Christen in diesen zwei Dörfern erlebbar zu machen, Wissenslücken zu schliessen und Gegenwartsfragen zu reflektieren.

Umso mehr ärgert sich Jules Bloch, einer der wenigen Juden, die noch in Endingen wohnen, über die Aussage des Nationalrats. «Eine Katastrophe ist so was. Eines Nationalrats unwürdig.» Bloch ist nicht nur Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Endingen, er ist auch im Vorstand des Vereins Doppeltür. Zur Mitgliedschaft von Fricker im Patronat sagt er: «So einen brauchen wir nicht.» Ob Fricker weiterhin tragbar sei, werde an der nächsten Vorstandssitzung Anfang November besprochen, sagt Lukas Keller, Präsident des Vereins.

Deportation, Hunger, Zwangsarbeit

Anita Winter ist die Tochter von Walter Strauss, der damals vor den Nazis flüchtete. Die ebenfalls in Baden aufgewachsene Winter ist Gründerin und Präsidentin der Stiftung Gamaraal. Diese setzt sich dafür ein, dass nicht vergessen geht, was damals geschah. Anita Winter trifft sich regelmässig mit Holocaust-Überlebenden: «Diese Menschen haben mit eigenen Augen gesehen, was mit Worten nicht zu beschreiben ist.»

Der Krieg sei für sie 1945 nicht fertig gewesen. Die Erfahrung von Deportation, Hunger, Zwangsarbeit und Ermordung von Angehörigen habe tiefe Spuren hinterlassen. Sie kämpften heute noch – 72 Jahre nach dem Ende des Krieges – mit dem stillen Schmerz, Schlafstörungen und Albträumen. Eine Über­lebende habe ihr gesagt: «Vorher hatte ich es verdrängt, aber im Alter kommt es zurück, es ist immer gegenwärtig. Vergessen ist unmöglich. Die Erde ist nicht tief genug, um diese Erinnerungen zu begraben.»

In Baden gibt es noch ein jüdische Gemeinde

Das Surbtaler Jiddisch ist ausgestorben. Geschichte sind die Juden im Aargau aber nicht. In Baden lebt noch immer eine kleine, aber aktive jüdische Gemeinde. Gestern feierte sie gemeinsam das Versöhnungsfest Jom Kippur in ihrer Synagoge.

Es ist nicht das erste Mal, dass ein Grünen-Politiker mit Aussagen über Juden in Baden für Wirbel sorgt. Geri Müller vertritt die Meinung, dass der israelische Staat mit den Palästinensern das Gleiche tue wie die Nationalsozialisten mit den Juden. Er lud Vertreter der Hamas ins Bundeshaus ein, die Israel das Existenzrecht absprechen, und warb mit dem Slogan «Israelische Produkte kaufen wir nie!» mit anderen linken Politgrössen auf einem Flugblatt für einen Israel-Boykott. Im «Dritten Reich» gab es den Aufruf: «Kauft nicht bei Juden!» Gewählt wurde Müller als Stadtpräsident damals trotzdem.

Marianne Binder ist Aargauer CVP-Grossrätin. Ihre Grossmutter führte in Baden einst ein Hotel, in dem sie geflüchtete Juden aufnahm. Frickers Aussage sei «untolerierbar». So wie sie ihn aber kenne, glaube sie nicht, dass ihm grundsätzlich verwerfliches Gedankengut unterstellt werden könne, sagt Binder. «Bewusst oder unbewusst hat er sich wohl eher in der Wortwahl an gewisse Chefideologen aus dieser Ecke angelehnt.»

Dass er Konsequenzen ziehe, sei stark

Dass Fricker nach der massiven Kritik, gerade auch aus seiner Partei, die Konsequenzen ziehe, sei stark. «Er bringt damit jene Kritiker unter Druck, die ihn jetzt scharf verurteilten, sich aber nicht mit ebensolcher Schärfe von der Haltung gewisser Leute in ihren eigenen Reihen distanzieren.» Leute, die unter dem Deckmantel von Israel-Kritik die klassischen Vorurteile gegen Juden wieder salonfähig machten, so die Badenerin.

Die aktuelle Ausstellung «The Last Swiss Holocaust Survivers» der Stiftung Gamaraal zeigt, dass die Überlebenden die Welt mit anderen Augen sehen. Wenn Jonas Fricker sagt, dass Juden im Gegensatz zu Schweinen wenigstens noch eine kleine Chance gehabt hätten davonzukommen, so ist das ein Schlag ins Gesicht aller, die das Grauen überlebten. Gerade auch, weil das Davongekommensein oft ein belastendes Thema ist.

In der Ausstellung macht die in die Schweiz geflüchtete Christa Markovits dazu eine berührende Aussage: «Ich hatte immer Glück. Meine Cousine, meine Tante, mein Onkel: Sie alle wurden ermordet. Und wir sind ohne Verdienst am Leben geblieben. Das habe ich nicht verdient. Ich habe das Glück nicht verdient.»

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