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Der Tessiner Spitaldirektor Christian Camponovo (49) hatte am 25. Februar den ersten Corona-Patienten der Schweiz in seiner Klinik. Seine ernüchternde Bilanz 236 Tage danach:
«Die Schweiz hat die zweite Welle verschlafen»

Christian Camponovo (49) behandelte an seinem Spital den ersten Corona-Patienten des Landes. Jetzt klagt der Direktor der Moncucco-Klinik in Lugano TI an: Im Sommer seien keine Szenarien für die zweite Welle im Herbst vorbereitet worden.
Publiziert: 17.10.2020 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 01.11.2020 um 23:17 Uhr
Nicolas Lurati

Am 25. Februar 2020 schlägt das BAG um 16.11 Uhr auf Twitter Alarm: Die Schweiz hat ihren Corona-Infizierten! Der 70-jährige Mann wurde in der Moncucco-Klinik in Lugano TI positiv auf Covid-19 getestet. 236 Tage sind seither vergangen. 236 Tage, in denen unser Land Zeit gehabt hätte, das Virus unter Kontrolle zu kriegen. Nur: Das Gegenteil ist der Fall. Die Fallzahlen explodierten in den letzten Tagen und Wochen. Sind so hoch wie nie! Am Freitag meldet das BAG 3105 Neuinfektionen in 24 Stunden.

Das erste Spital schlägt bereits Alarm: Am Mittwoch setzte das Spital Schwyz mittels Videobotschaft einen Hilferuf ab.

Wie kann das sein? Hat die Schweiz nichts gelernt?

Christian Camponovo (49) ist Direktor der Clinica Luganese Moncucco. In seiner Klinik wurde vor knapp acht Monaten der erste Corona-Infizierte der Schweiz behandelt.
Foto: © Ti-Press
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«Deutschschweiz hat zweite Welle deutlich unterschätzt!»

Spitaldirektor Christian Camponovo (49) von der Klinik Moncucco findet fast acht Monate, nachdem der erste Corona-Patient bei ihm eingeliefert wurde, klare Worte: «Die Deutschschweiz hat die zweite Welle deutlich unterschätzt!»

Er glaubt, dass die zweite Welle schlimmer werden könnte. «Bei der ersten Welle hatten wir fast schon Glück. Sowohl die Länder allgemein wie auch die Kantone der Schweiz wurden nacheinander getroffen.» Jetzt steigen die Zahlen jedoch überall gleichzeitig. Camponovo: «Die zweite Welle könnte viel länger dauern. Einerseits ist da der Winter. Andererseits ist die Schweizer Politik nicht mehr bereit, drastische Massnahmen zu ergreifen. Politik und Wirtschaft wollen keinen zweiten Lockdown. In dieser Einstellung sehe ich eine grosse Gefahr für eine schlimme zweite Welle.»

Für den Spitaldirektor unverständlich, warum der Bundesrat bei der ersten Welle landesweite Massnahmen verordnet habe, obwohl die Situation von Kanton zu Kanton unterschiedlich gewesen sei. «Jetzt ist die Situation in allen Kantonen gleich, aber der Bund macht nichts.»

«Spital Schwyz muss jetzt Prioritäten setzen»

Seine Bilanz ist knallhart und ernüchternd: «Die Schweiz hat die zweite Welle verschlafen.» Im Sommer seien keine Szenarien für die zweite Welle im Herbst vorbereitet worden. «Bei der ersten Welle kann man sagen, dass das Gesundheitssystem nicht vorbereitet war, weil Corona etwas Unerwartetes und Neues war. Dieses Argument zählt jetzt jedoch nicht mehr.»

Wenn Spitäler wie in Schwyz jetzt wieder an ihr Limit gelangen, ist für den coronaerprobten Tessiner klar, dass in den Krankenhäusern Prioritäten gesetzt werden müssen: «Man kann nicht alle Patienten pflegen. Operationen, die verschoben werden können ohne Folgen für den betreffenden Patienten, müssen jetzt warten.»

Den Aufruf des Spital Schwyz von Mitte Woche findet Camponovo gut: «Wenn sie sich in einer Notsituation fühlen, dürfen sie sich nicht verstecken.» Auch bei ihm in der Klinik steige der Druck auf den Notfall wieder. «Wir erwarten, dass die Fallzahlen weiter steigen. Ob wir gut vorbereitet waren auf die zweite Welle, wird sich im Frühling zeigen.»

«Die meisten Menschen denken, dass sie das Virus sowieso nicht trifft»

Zuerst müsse die Bevölkerung verstehen, dass die Gefahr bestehe, dass man nicht alle pflegen kann. «Die meisten Menschen denken, dass sie das Virus sowieso nicht trifft. Und wenn doch, dann geht man halt ein paar Tage ins Spital, und alles wird gut.»

Dem wird nicht so sein. Denn die Infektionszahlen dürften noch viel höher sein als zurzeit bekannt: «Wir reagieren auf die aktuellen Zahlen, doch das Virus ist schon weiter. Von dem, der heute neu infiziert wurde, werden wir erst nächste Woche erfahren.» Er sagt: «Wir müssen wieder schneller als das Virus sein. Und nicht hinter ihm her rennen.»



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