Chef-Wissenschaftlerin der WHO zur Corona-Pandemie
«Wir haben 60 Prozent der Strecke hinter uns»

Soumya Swaminathan von der Weltgesundheitsorganisation ist über die tiefe Impfrate der Schweiz nicht erstaunt. Sie fordert eine gerechte Verteilung der Impfstoffe.
Publiziert: 10.10.2021 um 14:07 Uhr
Interview: Camilla Alabor und Sven Zaugg

Je länger die Pandemie dauert, desto tiefer wird die Kluft zwischen den Ländern: Die reichen Staaten impfen sich aus der Krise; die armen begraben ihre Toten. Viele Organisationen fordern deshalb eine gerechtere Verteilung der Impfstoffe und prangern den «Impfnationalismus» reicher Nationen an. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO mit Sitz in Genf. SonntagsBlick hat Chefwissenschaftlerin Soumya Swaminathan zum Gespräch getroffen.

SonntagsBlick: Wenn die Pandemie ein Marathon ist: Wo befinden wir uns gerade?
Soumya Swaminathan: Ich hoffe, dass wir schon bald 60 Prozent der Strecke hinter uns haben. Aber es ist nicht auszuschliessen, dass wir einen weiteren, unerwarteten Berg erklimmen müssen.

Also ist so bald kein Ende in Sicht?
Es wäre verfrüht zu sagen, dass wir bald ins Ziel einlaufen; das ist nicht der Fall. Dazu gibt es zu viele Unbekannte. Eine der vielen Erfahrungen, die uns während der Pandemie Demut gelehrt hat, ist das unerwartete Auftauchen neuer Virusvarianten.

Soumya Swaminathan, Chef-Wissenschaftlerin der WHO, hofft, dass wir bei der Pandemie «schon bald 60 Prozent der Strecke hinter uns haben».
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Sie sagten einst: «Niemand ist sicher, wenn nicht alle sicher sind.» Was meinen Sie damit?
In gewissen Teilen der Welt ist ein sehr hoher Anteil der Bevölkerung geimpft: 70 bis 80 Prozent. In anderen Teilen der Welt, zum Beispiel in ganz Afrika, sind weniger als vier Prozent der Bevölkerung komplett immunisiert. Je länger wir diese Situation tolerieren, desto höher ist die Chance, dass neue Varianten entstehen. Aus diesem Grund fordert die WHO, alle verfügbaren Dosen dafür einzusetzen, die Impfquote global zu erhöhen. Erst danach sollten Booster-Impfungen ein Thema sein.

Gewisse Länder haben bereits mit Auffrischungsimpfungen angefangen. Ist das ein unethisches Vorgehen, solange so viele Menschen noch keinen Zugang zur Impfung hatten?
Ich möchte unterscheiden zwischen einer Booster-Impfung und einer dritten Dosis. Wir glauben, dass eine dritte Dosis für gewisse Gruppen nötig ist: Personen, die immunsupprimiert oder sehr alt sind und die keine starke Immunantwort auf die Impfung zeigen. Generelle Booster-Kampagnen für die gesamte erwachsene Bevölkerung dagegen sind unethisch, da sie nicht helfen, Todesfälle zu vermeiden. Und sie helfen uns auch nicht, die Pandemie zu überwinden.

Dann könnten Booster-Impfungen gar kontraproduktiv sein?
Einer meiner Kollegen, Dr. Mike Ryan, hat es an einer Medienkonferenz auf den Punkt gebracht. Er sagte: «Es ist, als ob man jenen Menschen Schwimmwesten gibt, die bereits eine tragen, während man andere ertrinken lässt.» Die meisten Covid-Todesfälle sehen wir bei Ungeimpften – selbst in Ländern, die eine hohe Impfquote aufweisen. Auch in diesen sollten wir uns auf die Immunisierung der Ungeimpften konzentrieren. Und natürlich müssen wir die Impfstoffe so bald wie möglich in die Länder bringen, die tiefe Impfquoten haben.

Und wenn wir das nicht tun?
Länder, die nun auf Booster-Kampagnen setzen, tun sich keinen Gefallen. Wenn eine neue Variante auftaucht, müssen auch sie allenfalls wieder bei Null anfangen. Wir müssen den Zugang zu den Impfstoffen als globales Problem begreifen; nicht als Problem, das jedes Land für sich lösen kann.

Das Paradoxe ist ja: Eigentlich wäre genug Impfstoff vorhanden, um praktisch die ganze Welt zu impfen?
Wir haben genug Nachschub: Jeden Monat werden ungefähr eineinhalb Milliarden Impfdosen produziert. Das Problem ist, dass der grösste Teil davon vertraglich an gewisse Länder gebunden ist. Nötig wäre, dass die Länder, die über solche Verträge verfügen, einen Schritt zurück machen und sagen: Wir haben bereits eine Impfquote von 40, 50, 60 Prozent. Die weiteren Dosen überlassen wir der Covax-Initiative zur globalen Verteilung der Imfpstoffe oder der Afrikanischen Impf-Beschaffungs-Taskforce. Zudem müssten Impfdosenhersteller, die mit der Covax-Initiative zusammenarbeiten, transparent machen, wann mit weiteren Dosen zu rechnen ist.

Wie meinen Sie das?
Das globale Impfprogramm Covax braucht klare Zusagen. Gerade Länder mit schwachen Gesundheitssystemen können nicht ohne jegliche Vorlaufzeit 10 Millionen Dosen aufs Mal verimpfen. Um die Verteilung der Dosen zu organisieren, brauchen wir Planungssicherheit. Derzeit müssen wir uns jeden Monat irgendwie durchwursteln.

Sie sagen es: Die Covax-Initiative hinkt, die Unternehmen klammern sich an ihre Patente, und der wissenschaftliche Austausch ist zaghaft. Das bremst die globale Immunisierungs-Kampagne.
Die Welt hat es geschafft, die Covid-Impfstoffe in sehr kurzer Zeit zu entwickeln. Diese Leistung der Impfstoffhersteller verdient Anerkennung. Wir dürfen aber nicht vergessen: Dieselben Firmen profitieren von Investitionen und Forschungsarbeit, die einst mit Steuergeldern finanziert wurden. Die Hersteller stehen deshalb in der Pflicht, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Gerade in einer Krise wie dieser, in der so viel menschliches Leid zu beklagen ist.

Konkret: Was fordern Sie von den Impfstoffherstellern?
Wissen und Technologie müssen ohne Wenn und Aber geteilt werden, damit die Produktion ausgeweitet und dezentralisiert werden kann. Das wäre eigentlich ein Leichtes. Die Hersteller haben ja bewiesen, dass eine gute Zusammenarbeit mit Produktionspartnern wie zum Beispiel der Schweizer Lonza möglich ist. Das Argument, dass dieser Wissenstransfer nicht funktioniert, zieht also nicht; nicht einmal für einkommensschwache Länder.

Die Konsequenz dieser ungleichen Verteilung: Während sich in den Industrienationen eine gewisse Normalität einstellt, herrscht anderswo weiterhin Ausnahmezustand.
Hier in der Schweiz gehen wir mit Freunden essen, ins Kino und feiern Familienfeste. Wir verbringen unseren Urlaub im Ausland. Für Mensche in Nationen mit niedriger Impfrate ist das noch immer ein ferner Traum. Die globale Impfkampagne schliesst derzeit einen grossen Teil der Weltbevölkerung aus. Das hat nicht nur gesundheitlich Auswirkungen, auch die Wirtschaft in den entsprechenden Ländern leidet.

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In der wohlhabenden Schweiz ist die Impfskepsis besonders ausgeprägt. Wie erklären Sie sich das?
Tatsächlich überrascht es, dass gerade in Ländern mit hohem Einkommen und einer gut ausgebildeten Bevölkerung die Skepsis besonders ausgeprägt ist. Studien haben gezeigt, dass die Impfskepsis in Entwicklungsländern tiefer ist. Überwiegt die Zurückhaltung gegenüber der Impfung, müssen wir die Ursachen verstehen. Fragen bezüglich Entwicklung und Art des Impfstoffs oder der Sicherheit können relativ einfach beantwortet werden. Viele sogenannte Skeptiker können überzeugt werden. Gleichzeitig wird es immer Menschen geben, die ihre Meinung nicht ändern. Damit müssen wir leben.

Nüchterne Aufklärung bleibt also Trumpf?
Sicher. Zudem müssen wir Verschwörungstheorien energisch bekämpfen; vor allem in den sozialen Medien, die weltweiten einen grossen Einfluss haben. Wir müssen die Impfskepsis global angehen.

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