Heim nach Italien
Letzter Besuch bei legendärem Berner Coiffeur

Giuseppe Assante war der Dällebach Kari der Neuzeit. Nun hört der Coiffeur auf und zieht heim. Ein letzter Besuch in Bern.
Publiziert: 31.12.2018 um 10:35 Uhr
Tobias Marti

In einem Coiffeursalon in Bern-Bümpliz geht gerade mehr zu Ende als nur das Jahr 2018. Für Giuseppe (69) und Lydia Assante (64) endet ein Leben. Ihr Dasein als Coiffeurpaar. Er – Brille, gepflegter Bart, Halbglatze, die am Hinterkopf in eine Vollmähne übergeht – ist darüber traurig. Sie – Brille, blonde Kurzhaarfrisur, feuerrotes Kleid – eher weniger. Er sagt: «Ich bin stolz darauf, dass ich als armer Emigrant etwas aufgebaut habe.» Sie sagt: «Ich sehe vor allem die neue Freiheit, die nun kommt.»

Beide sind sie in den 60er-Jahren in die Schweiz eingewandert, sie mit sieben aus den Abruzzen, er mit 18 aus Latium. An einem Coiffeurseminar haben sie sich vor vierzig Jahren kennengelernt. Seither teilt Ehepaar Assante Bett und Beruf. Eckdaten ihrer Selfmade-Karriere: bis zu drei Geschäfte gleichzeitig mit zehn Angestellten geführt, 40 Lehrlinge ausgebildet, ungezählte Überstunden angehäuft, nie Mittagspause gemacht, zwei Söhne auf-, und vor sechs Jahren die letzten Ferien bezogen. Sie sagt: «In meinem Leben drehte sich alles um Termine!» Mit den Kunden seien sie immer flexibel gewesen, «nur mit uns waren wir es nicht». Er sagt: «Die Zeit verging viel zu schnell!» Und plötzlich ist Tag X da. Ende Jahr ist Schluss.

Schweizer Meister im Jahr 1978

Gut gibt es bis dahin noch Kundschaft. Denn solange Haare geschnitten werden, ist es nicht vorbei. Stammkunde Claudio Campanile (57) hat auf dem 60er-Jahre Friseursessel Platz genommen. Der Mann sieht nicht aus, als bräuchte er dringend einen Haarschnitt. Tut er auch nicht. Er ist wegen des 
«Figaro» da. Dieser, stolzer Schweizer Meister im Jahr 1978, trägt auch heute Krawatte, wie eigentlich immer, ob Sommer oder Winter, im Garten oder Salon. Das Sujet: Samichlaus mit Schlitten. Giuseppe Assante mag Traditionen. «Come sempre?» – «wie immer?», fragt er seine Stammkunden, dazu ein prüfender Blick über den Brillenrand.

Teilten 40 Jahren Bett und Beruf: Giuseppe und Lydia Assante.
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Heute greift er schweigend nach der Schere. Warum fragen, seit 50 Jahren schneidet er Campanile die Haare, stets die gleiche Frisur. «Ich habe mit wenigen Menschen eine so lange Beziehung», sagt dieser. Zweimal wurde er untreu, liess sich von Fremden die Haare schneiden. Einmal im Militär, einmal im Urlaub. Aber das zählt nicht wirklich.

«Heute wird mehr politisiert als früher»

Neun von zehn Kunden, erklärt der Barbiere – nun mit Kamm und Schere hantierend und sichtbar in seinem Element – wollen vom Coiffeur unterhalten werden: «Ich merke das sofort, ob einer reden will oder nicht.» Sein Gespür täuschte ihn nie, nur die Gespräche hätten sich verändert: «Heute wird mehr politisiert als früher.» 99 Prozent seiner Kunden sind Schweizer, viele würden sich sorgen, was aus 
ihrem Land einmal werde.

Eine weitere Veränderung: Früher seien die Leute offener gewesen, heute werde zuerst überprüft, ob der Nebenmann vielleicht die Ohren spitze. «Erst dann legen sie los.» Oft gehts dann gegen Italien, gegen Berlusconi damals, Salvini heute. «Vagant! Spinncheib! Und ich muss die Leute dann wie ein Pfarrer beruhigen», sagt Giuseppe Assante in seinem halb klischeehaften, halb urchigen Italo-Deutsch, für das er bekannt ist.

Er grinst, denn es ist seine Paraderolle. Die grosse Politik, dargestellt vom kleinen Bürger. Aber mit grosser Geste. Damit brachte er es zur lokalen Berühmtheit. Als damaliger Präsident des Schrebergartens Bottigenmoos spielte er im Dokfilm «Unser Garten Eden» die Hauptrolle. Natürlich als sich selber. Il presidente! Die Lokalpresse nannte ihn Dällebach Giuseppe, in Anlehnung an Dällebach Kari, den anderen grossen, wortgewaltigen Berner Coiffeurmeister. Assante lässt die Schere sinken, hält inne und schwelgt von der Berlinale, den Filmfestspielen in Berlin.

Ehefrau Lydia Assante frisiert auf der anderen Seite

«Er kam sich vor wie George Clooney», tönt es von der anderen Seite der Trennwand, die mitten durch den Salon verläuft. Ohne 
Lydia Assante zu sehen, sieht man doch, wie sie wegen ihres «Seppu» mal wieder die Augen verdreht. «Das Geschäftliche und Private so nah beisammen, das war nicht immer leicht», sagt sie, «immerhin hatten wir unsere Bereiche.» Und so bleibt das bis zum Ende. Er frisiert auf seiner Seite der Wand, sie auf ihrer. Die Mauer als Ehestütze.

Wie Generationen Italiener vor ihnen zieht es Assantes nun retour. Nach Formia, 100 Kilometer südlich von Rom, 1000 Kilometer entfernt von Bern. Aber bei ihnen, das macht sie deutlich, soll es anders laufen. Assantes wollen zwischen den Welten pendeln. «Wir möchten beides», sagt sie. Garten und Häuser unten, die Familie hier. Denn die erwachsenen Söhne bleiben in Bern, und noch viel wichtiger: ihre beiden Enkel leben hier.

Signierte Autogrammkarte von Eros Ramazzotti

Und da ist noch ein anderer Grund, warum sie 2019 oft in der Schweiz sein werden: Lydia Assante hat Brustkrebs. Die Operation verlief gut, aber ab Januar muss sie sich während sechs Wochen jeden Tag bestrahlen lassen.
Am Ende passt ein Leben in einen Migrossack. Dieser enthält Fotos, die gerade noch an der Wand hingen: Giuseppe als junger Mann vor dem Barbiersalon des Grossvaters. «Ich war ein hübscher Cheib!» Eine signierte Autogrammkarte von Eros Ramazzotti. Ein Porträt eines amerikanischen Botschafters, samt geschenktem «Stars and Stripes»-Füller des Stammkunden.

Und irgendwann ist Claudio Campanile fertig rasiert. Glatter gehts nicht. Giuseppe Assante legt das Rasiermesser mit dem Elfenbeingriff weg. Assantes sagen «Grazie mille!» Der Barbiere von Bümpliz hat fertig. 

Der original Dällebach Kari

Dällebach Kari, der Berner Coiffeurmeister mit der Hasenscharte, war bekannt für Humor und Witz. Karl Tellenbach, wie er bürgerlich hiess, führte ein Coiffeurgeschäft an der Neuengasse, war unglücklich in die reiche Fabrikantentochter Annemarie Geiser verliebt. Er nahm sich mit einem Sprung von der Berner Korn-hausbrücke in die Aare das Leben. Dällebach Kari war schon zu Lebzeiten ein Berner Stadtoriginal. Regisseur Kurt Früh und Chansonnier Mani Matter widmeten ihm Film und Lied. 

Dällebach Kari, der Berner Coiffeurmeister mit der Hasenscharte, war bekannt für Humor und Witz. Karl Tellenbach, wie er bürgerlich hiess, führte ein Coiffeurgeschäft an der Neuengasse, war unglücklich in die reiche Fabrikantentochter Annemarie Geiser verliebt. Er nahm sich mit einem Sprung von der Berner Korn-hausbrücke in die Aare das Leben. Dällebach Kari war schon zu Lebzeiten ein Berner Stadtoriginal. Regisseur Kurt Früh und Chansonnier Mani Matter widmeten ihm Film und Lied. 

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