Anklageschrift enthüllt verrücktes «Drehbuch» für Zürcher Seefeld-Mord
Darum erstach Tobias K. am helllichten Tag einen Mann

Vor drei Jahren wurde im Zürcher Seefeld ein IT-Fachmann (†42) getötet. Der Täter, Tobias K. (26), verriet sich selbst: Er liess seinen Hut am Tatort zurück. Die Anklageschrift des Staatsanwalts zeigt: Es ist nicht das verrückteste Detail der brutalen Tat.
Publiziert: 14.07.2019 um 23:00 Uhr
|
Aktualisiert: 24.01.2024 um 00:05 Uhr
Blickgruppe_Portrait_254.JPG
Viktor DammannReporter

Sie liest sich wie ein Wallander-Roman des schwedischen Autors Henning Mankell: die Anklageschrift des Zürcher «Seefeld-Mordes». Die unglaubliche Geschichte beginnt mit der Verhaftung von Tobias K.* (26), der wegen räuberischer Erpressung in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies gesessen hatte – aber auf Hafturlaub verschwunden war.

Erst nach einer siebenmonatigen Flucht wurde er wieder erwischt. Und die Ermittler wussten da schon genau, was er in dieser Zeit getan hatte. BLICK-Recherchen zeigen: Man hatte K.s beigebraunen Hut gefunden – dort, wo am 30. Juni 2016 der IT-Fachmann M. S.* (†42) seinen Stichwunden erlegen war. Die DNA am Hut fand die Polizei schnell in der Täter-Datenbank: Es war die von Tobias K. Der Verhaftete gab denn auch zu, dass er M. S. getötet hatte – einen ihm völlig unbekannten Mann. Schuld daran seien die Lügengeschichten eines Mithäftlings aus Litauen gewesen: Irvidias M.* (38).

Die beiden Angeklagten verband der Hass auf die Industriellenfamilie Schmidheiny

Das glaubt auch Staatsanwalt Adrian Kägi. Er fordert für das Duo K. und M. eine lebenslange Strafe und Verwahrung wegen Mord und strafbarer Vorbereitungshandlungen zu mehrfachem Mord. BLICK hatte Einblick in die Anklageschrift. Sie offenbart, was – oder besser: wer – die beiden Angeklagten verbindet: der Schweizer Industrielle Thomas Schmidheiny (73) aus der Holcim-Besitzerfamilie.

Tatort: Am Arosasteig im Seefeld erstach Tobias K. den ihm unbekannten IT-Fachmann M. S. um die Mittagszeit des 30. Juni 2016.
Foto: KEYSTONE/Walter Bieri
1/6

So sass Irvidias M. hinter Gittern, weil er die Stadt Zürich und Schmidheiny um 150 Millionen Franken erpressen wollte. Bei Tobias K. wiederum waren die Schmidheinys ein Familienthema. Seine Mutter hatte ihrem Sohn berichtet, sie habe als Spitex-Mitarbeiterin Asbest-Opfer gepflegt und in den Tod begleitet, die im Eternitwerk der Schmidheinys gearbeitet hatten.

Das hat K. wohl, so die Anklage, empfänglich gemacht für eine Geschichte, die ihm M. auftischte: Er, der Litauer, sei nämlich zu Unrecht wegen Erpressung des Industriellen verurteilt worden. Und: Dass er über Daten verfüge, die Schmidheiny «schwer belasten» würden – es dabei sogar um den Verkauf von Atomwaffen gehe.

Bizarre Lügengeschichten des Knastkumpels

Deswegen habe ihn Milliardär Schmidheiny mit einem Geschäftspartner mehrfach in der Pöschwies besucht, erzählte M. seinem Knastbruder. Für die belastenden Daten seien ihm dabei Millionenbeträge angeboten worden. Aus Angst um sein Leben habe Irvidias M. das Angebot jedoch abgelehnt. Darauf habe ihm Schmidheiny die Entführung seiner Familie angedroht. Auch Tobias K.s Kinder seien bedroht, behauptete der Litauer.

Weiter soll er K. anvertraut haben, er stehe deswegen sogar mit Bundesrätin Simonetta Sommaruga (59) in Kontakt. Zudem hätten unbekannte Portugiesen M.s Ex-Ehefrau in England entführt. Sie sei jedoch von der Polizei befreit worden.

Die Halbwahrheiten und Lügen, so der Staatsanwalt, hätten Tobias K. weismachen sollen, er müsse schnellstmöglich zusammen mit dem Litauer aus dem Knast kommen. Damit man sich danach an Schmidheiny rächen oder erneut Geld für die belastenden Daten verlangen könne. Die beiden fassten den Plan, dass K. im Hafturlaub dem Zürcher Kantonsrat ein Schreiben schicken solle, in dem eine litauische Bande die Freilassung ihres Landsmannes fordere. Andernfalls werde eine beliebige Person getötet.

Hafturlaub eigenmächtig verlängert

Am 23. Juni 2016, in seinem ersten unbegleiteten Hafturlaub, brätelte Tobias K. mit seiner Familie an der Thur. Gegen 17 Uhr fuhr ihn sein Vater nach Andelfingen ZH an den Bahnhof zur Rückfahrt nach Regensdorf ZH. Doch K. tauchte bei einem Kollegen unter. Der half ihm, Fotos zu machen, die K. als gefesselten Gefangenen der angeblichen litauischen Bande zeigen sollten. Um die Maskerade glaubwürdiger zu machen, zapfte sich K. mit einer Spritze Blut ab und verschmierte es auf seinem Kopf. Diese Fotos legte er dem Erpresserschreiben bei. Den Brief an «KANTONSRAT, RATHAUS, LIMMATQUAI 55, ZURICH» warf Tobias K. am 25. Juni tatsächlich in den Briefkasten.

Das Ultimatum der falschen litauischen Gangster lief am 29. Juni ab – ohne dass Irvidias M. freigelassen wurde. Tobias K., inzwischen in der Pöschwies längst überfällig, fuhr nach Zürich und kaufte im Coop Bahnhofbrücke ein Fleischmesser (Klingenlänge: 18 Zentimeter). Dann machte er sich auf die Suche nach einem geeigneten Opfer. An jenem Tag wurde er nicht «fündig». Am nächsten Tag suchte er weiter, schlich den ganzen Morgen durch die Bahnhofstrasse, durchs Zürichberg-Quartier. Auf seinem Kopf ein beigefarbener Hut.

Zufallsopfer machte Mittagspause

Um 13.40 Uhr erblickte er IT-Fachmann M. S., auf einem Mäuerchen sitzend, an einer E-Zigarette ziehend. «Als dieser sah, wie Tobias K. mit der rechten Hand hinter dem Rücken versteckt auf ihn zukam, erhob er sich», schreibt der Staatsanwalt in seiner Anklage. Danach habe K. ohne Vorwarnung auf den Wehrlosen eingestochen. Die Stiche trafen den Mann am Kopf, Hals und Oberkörper. Das Zufallsopfer schleppte sich noch etwa hundert Meter weiter. Dann blieb M. S. liegen und verblutete.

Der flüchtende Messerstecher warf Tatmesser und Turnschuhe in ein Gebüsch und zog sich mitgeführte andere Kleider an. Die ursprüngliche Bekleidung warf er später in einen Abfallcontainer.

Im Erpresserbrief hatte Tobias K. gedroht, bei Nichtfreilassung seines Kumpels werde er jeden Tag eine weitere Person umbringen. Tatsächlich wies er nach seiner Flucht auf eine Alp einen Kollegen an, ihm über das Darknet gefälschte Ausweise und Handfeuerwaffen und Handgranaten zu besorgen. Doch es musste niemand mehr sterben. Sieben Monate später, am 18. Januar 2017, ging Tobias K. in Burgdorf BE einer Spezialeinheit in die Falle. Er war selber auf einen Scheinverkäufer der Polizei hereingefallen.

Litauer bestreitet jegliche Beteiligung

Dominik Zillig, Anwalt von Tobias K., nimmt für seinen Mandanten Stellung: «Herr K. ist geständig, das Tötungsdelikt begangen zu haben. Er war der festen Überzeugung, dass Irvidias M. ihm die Wahrheit erzählt hatte. Heute ist ihm schleierhaft, wie er so hinters Licht geführt werden konnte.» Auch die Waffen aus dem Darknet habe er lediglich aus Selbstschutzgründen kaufen wollen.

Der Litauer bestreitet gemäss seinem Anwalt Andrea Taormina, etwas mit dem Mord und den strafbaren Vorbereitungshandlungen zu mehrfachem Mord zu tun zu haben.

Der Prozesstermin vor dem Zürcher Bezirksgericht steht noch aus. 

*Namen bekannt

Die Chronologie des Seefeld-Mordes

September 2013: Irvidias M. tritt in die Strafanstalt Pöschwies ein.

Mai 2014: Der Litauer wird vom Zürcher Obergericht wegen einer Millionen-Erpressung gegen die Stadt Zürich und Unternehmer Thomas Schmidheiny zu acht Jahren verurteilt.

Oktober 2014: Eintritt von Tobias K. in die Justizvollzugsanstalt Pöschwies. Er lernt Irvidias M. kennen.

September 2015: K. wird vom Zürcher Obergericht u. a. wegen Freiheitsberaubung und räuberischer Erpressung mit fünf Jahren bestraft.

Juni 2016: K. ersticht (während seines verlängerten Hafturlaubs) im Zürcher Seefeld ein Zufallsopfer und flüchtet.

Januar 2017: K. wird beim «Scheinkauf» einer Waffe verhaftet.

September 2017: Die Strafe von Irvidias M. wäre zu 2/3 verbüsst gewesen, er hätte bedingt entlassen werden können.

Januar 2018: Auch der Schweizer hätte die Möglichkeit der bedingten Entlassung gehabt.

September 2013: Irvidias M. tritt in die Strafanstalt Pöschwies ein.

Mai 2014: Der Litauer wird vom Zürcher Obergericht wegen einer Millionen-Erpressung gegen die Stadt Zürich und Unternehmer Thomas Schmidheiny zu acht Jahren verurteilt.

Oktober 2014: Eintritt von Tobias K. in die Justizvollzugsanstalt Pöschwies. Er lernt Irvidias M. kennen.

September 2015: K. wird vom Zürcher Obergericht u. a. wegen Freiheitsberaubung und räuberischer Erpressung mit fünf Jahren bestraft.

Juni 2016: K. ersticht (während seines verlängerten Hafturlaubs) im Zürcher Seefeld ein Zufallsopfer und flüchtet.

Januar 2017: K. wird beim «Scheinkauf» einer Waffe verhaftet.

September 2017: Die Strafe von Irvidias M. wäre zu 2/3 verbüsst gewesen, er hätte bedingt entlassen werden können.

Januar 2018: Auch der Schweizer hätte die Möglichkeit der bedingten Entlassung gehabt.

Mehr
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?