Altersheime in der Schweiz – es geht auch anders!
So frei sind die Senioren in Allschwil BL

Im Alterszentrum von Allschwil BL wird niemand gefesselt. Im Gegenteil, bewegungslustige Senioren tragen einen GPS-Sender. So sind sie frei, obwohl sie nicht immer von selbst heimfinden.
Publiziert: 30.04.2017 um 20:11 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 04:15 Uhr
Aline Wüst

Nachts hat Cecile Steiger manchmal Krämpfe im Bein. Dann ruft sie nach ihrer Mutter. Die alte Frau schüttelt den Kopf: «91 Jahre alt bin ich nun – und schreie noch immer nach der Mamme.»

Zu Hilfe eilt ihr dann – statt der Mutter – der Nachtdienst. Steiger ruft die Helfer mit einem Alarmknopf, den sie am Handgelenk trägt. Für eine ruhige Nacht wünscht sich die Seniorin auch ein Bettgitter. Wobei es sich im Alterszentrum von Allschwil nicht um ein Gitter handelt, sondern eher um einen Schutz aus Kunststoff, der sich etwa 50 Zentimeter über die Matratze hochfahren lässt.

Ave Maria zum Einschlafen

Wie ein grosses Kinderbett sieht das dann aus. Praktisch sei, dass sie sich an diesem Schutz hochziehen könne, sagt Steiger. Zum Beispiel abends, um ihren verspannten Körper zu dehnen. Danach lege sie sich hin und rappe das Ave Maria auf Latein, bis sie schlafe: «Sicher und zufrieden wie ein Baby.»

Das Alterszentrum Am Bachgraben ist eines der grössten der Schweiz. Mit einem Leistungsauftrag der Gemeinden Allschwil und Schönenbuch ist es als Stiftung organisiert. 200 Menschen leben hier in unterschiedlichen Wohnbereichen.

Ein Tänzchen in Ehren kann niemand verwehren – Zäzilia Gross mit Francika Arduini, Leiterin Wohnbereich.
Foto: Siggi Bucher
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Zäzilia Gross (92) und Francika Arduini (37).
Foto: Siggi Bucher



Auf B02 ist Francika Arduini (37) Leiterin, die Pflegefachverantwortliche heisst Petra Waibel (53). Zusammen mit fünf Mitarbeitern pflegt sie 25 Bewohner. Freiheitseinschränkende Massnahmen sind oft ein Thema. Arduini und Waibel haben Erfahrung mit unruhigen Nächten in ihrem Wohnbereich. Vor allem bei Vollmond.

Autonomie ist das Wichtigste

Ans Bett gebunden oder mit Bettgittern eingesperrt (BLICK berichtete) werde hier aber niemand. «Die Autonomie jedes Bewohners ist zentral», sagt Arduini. Das gehört zur Philosophie des Hauses. Dafür wird im Extremfall auch ein Sturz in Kauf genommen. Fixationsgurte gibt es keine. Der Rausfallschutz an den Betten wird nur hochgefahren, wenn es jemand wünscht.

Oft brauche es gar keine komplizierten Massnahmen. Waibel: «Manchmal hilft es auch, sich nachts mit einem unruhigen Bewohner hinzusetzen, etwas zu essen oder eine Tasse Tee zu trinken.»

Sicherheit bieten, ohne die Freiheit einzuschränken, können aber auch Bewegungsmelder. Sie werden nur mit Einverständnis der Betroffenen angebracht und lösen automatisch Alarm aus, wenn ein Bewohner nachts sein Bett verlässt. Der Bewohner selber merkt davon nichts. Vor Stürzen geschützt ist er trotzdem, weil der Nachtdienst bei Alarm ins Zimmer schaut und etwa Hilfe beim Toilettengang anbieten kann.

«Genau so alt wie die Migros»

Wer Zäzilia Gross (92) fragt, wie alt sie sei, dem antwortet sie: «Genau so alt wie die Migros.» Und wenn sie nicht mehr weiss, was sie sagen soll, dann tanzt die kleine Frau. Elvis mag sie nicht. Lieber Schlager. Oder sie singt selbst: «Lustig ist das Zigeunerleben, faria, faria, ho.» Verlässt Gross ihr Zimmer, kreuzt sie eine gelbe Matte – und löst damit einen Alarm aus. Ohne ihren Rollator könnte sie stürzen. Dank der gelben Matte aber wissen die Pflegenden, wann die alte Frau Hilfe braucht.

Gross geht weiter als nur auf den Gang. Sie geht am liebsten nach draussen. Dann geht sie und geht ... irgendwann weiss sie nicht mehr, wohin sie wollte, woher sie kam. An ihrem Rollator ist aber ein GPS-Sender angebracht. So kann Petra Waibel am Bildschirm beobachten, wohin sie spaziert.

Senioren mit GPS-Sendern

Bleibt Gross zu lange fort oder hat sich verirrt, setzt sich Waibel aufs Velo und bringt sie zurück. Sieben Bewohner des Alterszentrums tragen zurzeit einen solchen GPS-Sender. Der ist kostspielig. Für Menschen wie Zäzilia Gross aber bedeutet er Freiheit in einer Welt, die für sie immer kleiner wird.

Für Direktor Sandro Zamengo (47) beginnt die Freiheit seiner 200 Bewohner nicht erst mit dem GPS oder dem Weglassen der Bettgitter. Er fragt: «Was ist mit dem Mann, den ich mittags unrasiert und mit fleckigem Hemd auf dem Gang antreffe?»

Erkundige er sich im Wohnbereich, sagen ihm die Pflegenden, dass er sich am Morgen ohne fremde Hilfe anziehen wollte und dass ihn das Rasieren schmerze. «Greife ich da nicht in seine Privatsphäre ein, wenn ich durchsetze, dass er rasiert und neu angezogen wird?»

Am Ende aber sei die Pflegequalität auch eine Frage der Finanzierung. Und da stelle sich die Frage, was einer Gesellschaft das hochbetagte Alter wert sei.

Zamengo wünscht sich, dass Politiker, die über das Leistungsangebot in einem Alterszentrum vom Schreibtisch aus bestimmen, zwei Tage in der Pflege vorbeischauen. «Nur dann verstehen sie, worüber sie entscheiden», sagt er.

So finden Sie die richtige Wohnform für das Alter

Glückliche Schweiz: In der letzten Lebensphase fängt uns das Gesetz auf. Paragraf 5 des Pflegegesetzes (kantonal geregelt) verpflichtet die Gemeinden, für ihre Einwohner stationäre und ambulante Einrichtungen der Pflegeversorgung sicherzustellen. Wortlaut: «Wenn sie ihren Haushalt nicht mehr selbständig führen können.» Ein Altersheim mit Garantie.

Es kommt unweigerlich der Zeitpunkt, wo Sie im Alltag nicht mehr alles selbst bewältigen können. Die Eigenverantwortung aufgeben zu müssen, ist einer der schwersten Schritte im Leben. Sie benötigen Hilfe, später auch Pflege. Die Lösung ist ein unterstütztes Wohnen. Aber in welcher Form? Bei einer Umfrage der Age-Stiftung («Wo möchten Sie im Alter wohnen?») wünschten sich die meisten eigene vier Wände, eine spezielle Alterswohnung oder eine Wohnung, die zu einem Altersheim gehört. 86 Prozent der 60-Jährigen und Älteren können es sich noch nicht vorstellen, in einem Alters- oder Pflegeheim zu wohnen. Oder halt nur dann, wenn es unbedingt sein muss. Dieselbe Studie hat ergeben: 50 Prozent der zu Hause lebenden über 85-Jährigen sind stark hilfsbedürftig, 18 Prozent auf intensive Pflege angewiesen.

Bei der Frage, welche Wohnform die richtige ist, gilt es die Balance zwischen Autonomie und Sicherheit zu finden. Wie wichtig ist ein Notrufsystem? Will ich selber kochen? Ärztliche Hilfe auf Abruf? Wie viel Pflege? Beim betreuten Wohnen ist man nicht mehr für sich allein. Zusätz­liche Dienstleistungen haben ihren Preis. Das Budget bestimmt die Ansprüche.

Wie finde ich das richtige Altersheim? Kümmern Sie sich frühzeitig um die Suche, viele Altersheime haben lange Wartefristen. Klären Sie mit Ihrem Hausarzt und Angehörigen ab, welche Pflegeleistungen Sie benötigen. Welches ist Ihre Wunsch­region für die letzten Lebensjahre? Im Inter­net auf heiminfo.ch, einer Dienstleistung von Curaviva, dem Verband Heime und Institutionen Schweiz, finden Sie mit Suchbegriffen und einem Vergleichsprogramm meh­rere Hundert Ange­bote von Altersheimen und ähnlichen Einrichtungen in der ganzen Schweiz. Besuchen Sie das ausgewählte Heim oder die Wohnung, einige Altersheime bieten Schnupperaufenthalte an. Tipps erhalten Sie auch auf prosenectute.ch

Glückliche Schweiz: In der letzten Lebensphase fängt uns das Gesetz auf. Paragraf 5 des Pflegegesetzes (kantonal geregelt) verpflichtet die Gemeinden, für ihre Einwohner stationäre und ambulante Einrichtungen der Pflegeversorgung sicherzustellen. Wortlaut: «Wenn sie ihren Haushalt nicht mehr selbständig führen können.» Ein Altersheim mit Garantie.

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Gemäss dem neuen Erwachsenenschutzrecht dürfen freiheitseinschränkende Massnahmen nur ergriffen werden, wenn weniger einschneidende Vorkehrungen nicht ausreichen – oder von vornherein als ungenügend erscheinen. Das seit 2013 geltende Recht schreibt den Heimen ein klares Verfahren vor: Betroffene und deren Angehörige etwa müssen genau über die geplante Massnahme informiert werden, die ebenso exakt in einem Protokoll festgehalten sein muss. Betroffene können sich bei der Erwachsenenschutzbehörde über die Massnahme beschweren. Ein Recht, von dem kaum jemand Gebrauch macht: Laut den Behörden im Kanton Bern und der Stadt Zürich wurde es bisher je ein Mal beansprucht. Viel eindeutiger ist die Rechtslage in Deutschland: Hier muss jeweils ein Richter die Fesselung bewilligen.

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