Abt von Jerusalem über seine Position zwischen den Nahost-Fronten
«Wir haben derzeit einen Opfer-Wettbewerb»

Er gehört zu den gefragtesten christlichen Geistlichen im Nahostkonflikt: der Deutsche Nikodemus Schnabel, Abt der Dormitio-Abtei in Jerusalem. Im Interview spricht er über Anfeindungen gegen ihn und darüber, was es für eine Versöhnung in Israel bräuchte.
Publiziert: 25.05.2024 um 00:17 Uhr
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Aktualisiert: 25.05.2024 um 09:12 Uhr
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

Der Benediktiner Nikodemus Schnabel (45) lebt seit 20 Jahren in Israel. Seit einem Jahr führt er die Dormitio-Abtei in Jerusalem. Eine der meistbesuchten christlichen Stätten Israels. Zu ihr gehört das Priorat in Tabgha, das am See Genezareth im Norden liegt. Wir haben Abt Nikodemus im Kloster direkt an dessen Ufer erreicht, im Hintergrund rauscht eine der sieben warmen Quellen, die in den See fliesst. Am Sonntag, 26. Mai, ist er Gast an der Wallfahrt in Einsiedeln SZ, die das Hilfswerk «Kirche in Not (ACN)» organisiert.

Abt Nikodemus, Sie sind nah dran am Geschehen in Israel. Was bekommen Sie mit?
Nikodemus Schnabel: Ich sehe einen Ozean von Leid. Ich habe jüdische Freunde, die am 7. Oktober Nahestehende verloren haben. Ich kenne jüdische Menschen, die nach Gaza entführt oder vergewaltigt wurden. Auch Palästinenser, die im Gazastreifen umgekommen sind. Viele Leben wurden zerstört. Ich bin mit beiden Seiten engstens verbunden.

Und wie steht es um die Christen?
Am Tag des Hamas-Massakers wurden vier meiner Leute ermordet. Drei Philippinerinnen und ein Philippiner. Der Mann hat eine hochschwangere Frau hinterlassen. Ihr Kind wurde im Januar getauft. In Gaza zählen wir 34 getötete Christen. Die kenne ich alle. Sie sind die übersehenen Opfer dieses Krieges.

Von weitem sieht man der Stadt Jerusalem das Leiden im Land nicht an. Abt Nikodemus Schnabel sagt: «Am Tag des Hamas-Massakers wurden vier meiner Leute ermordet.»
Foto: imago/UPI Photo
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Abt Nikodemus Schnabel

1978 in Stuttgart (D) als Claudius Schnabel geboren und evangelisch getauft, kam Schnabel mit 13 Jahren zum katholischen Glauben. Er studierte Philosophie und Theologie. 2003 trat er in die Benediktinerabtei der Dormitio auf dem Berg Zion in Jerusalem ein. Nikodemus Schnabel ist Auslandsseelsorger für die deutschsprachigen Katholiken in Israel und Palästina. Am 3. Februar wählte die Gemeinschaft ihn zum neuen Abt.

1978 in Stuttgart (D) als Claudius Schnabel geboren und evangelisch getauft, kam Schnabel mit 13 Jahren zum katholischen Glauben. Er studierte Philosophie und Theologie. 2003 trat er in die Benediktinerabtei der Dormitio auf dem Berg Zion in Jerusalem ein. Nikodemus Schnabel ist Auslandsseelsorger für die deutschsprachigen Katholiken in Israel und Palästina. Am 3. Februar wählte die Gemeinschaft ihn zum neuen Abt.

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Der Job der Politiker ist derzeit, zu sondieren, zu verhandeln. Was ist Ihre Aufgabe als Abt?
Mein Job ist auf jeden Fall nicht, Politiker zu sein. Am Tag des Massakers der Hamas war ich gerade in Rom. Ich versuchte, so schnell wie möglich in mein Kloster zurückzukehren. Ich wollte in dieser Situation bei den mir anvertrauten Menschen in Jerusalem sein. Auf abenteuerlichem Wege habe ich es über Jordanien nach Israel geschafft. Meine Mitbrüder, unsere Studierenden und ich gehören zu den wenigen Ausländern, die geblieben sind.

Pilgerin Israel bleiben aus

Die Dormitio-Abtei lebt von den Pilgern in Jerusalem und Tabgha. In Friedenszeiten sind dies alleine in Tabgha 5000 pro Tag. Sie alle fallen nun weg. Und somit die Einnahmen, um mehrere Dutzend lokale Mitarbeitende zu entlöhnen. Abt Nikodemus beschäftigt sie weiter, obwohl die Abtei kaum noch die Mittel dafür hat. «Ich kann sie nicht in die Armut stossen.» Die Abtei ist nun auf Spenden angewiesen.

Die Dormitio-Abtei lebt von den Pilgern in Jerusalem und Tabgha. In Friedenszeiten sind dies alleine in Tabgha 5000 pro Tag. Sie alle fallen nun weg. Und somit die Einnahmen, um mehrere Dutzend lokale Mitarbeitende zu entlöhnen. Abt Nikodemus beschäftigt sie weiter, obwohl die Abtei kaum noch die Mittel dafür hat. «Ich kann sie nicht in die Armut stossen.» Die Abtei ist nun auf Spenden angewiesen.

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Warum sind Sie nicht gegangen?
Ich bin hauptberuflich als Mönch im Heiligen Land, um Gott zu suchen und für die Menschen da zu sein. Wir sind da! Das war mir wichtig. Wir waren als Seelsorger gefragt und haben auch Menschen in unseren beiden Klöstern Zuflucht geboten.

Was ist Ihre grösste Sorge?
Die zunehmende Polarisierung. Leute fragen: Wo steht denn jetzt die Kirche, pro Israel oder pro Palästina? Dann sage ich: Wir sind pro Mensch. Wir haben unschuldiges Leid auf allen Seiten. Ich kann es mir nicht so einfach machen.

Wie wer?
Wie viele Menschen in Europa mit Israel- oder Palästinaflagge und #IstandwithIsrael oder #FreePalestine auf dem Instagramprofil. Da muss ich sagen: Ne, Leute, das hier ist kein Fussballmatch, bei dem man sein Team anfeuert, hier leiden und sterben Menschen auf beiden Seiten. Menschen machen anderen Menschen das Leben zur Hölle.

Geraten Sie mit Ihren pointierten Aussagen auch schon mal zwischen die Fronten?
Durchaus. Die einen beschimpfen mich als Antisemit, die anderen als Unterstützer des «genozidalen zionistischen Regimes», da ich mich dem dualistischen Freund-Feind-Denken widersetze.

Was wirft man Ihnen vor?
Warum ich eben keine Flagge auf meinem Profilbild poste und warum ich mich nicht klarer und kantiger positionieren würde. Viele denken, meine Position sei bequem. Ganz im Gegenteil. Sobald man klar auf einer Seite steht, hat man zwar Gegner, aber auch viele Unterstützer. Mit Aufzeigen von Grautönen punktet man nirgendwo.

Was ist denn nun Ihre Position?
Jeder Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen. Es gibt in der deutschen Verfassung, im Grundgesetz, ein säkulares Echo hierzu: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

In jener der Schweiz heisst es: Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.
Eben. Ich glaube nicht an einen Gott, der mit einem Geografie-Atlas im Himmel sitzt und sich für Ländergrenzen interessiert. Ich glaube an einen Gott, der in Liebe auf jeden einzelnen Menschen schaut und für den jeder getötete Mensch einer zu viel ist. Unabhängig von der Religion und der ethnischen Zugehörigkeit.

Sie erleben auch Angriffe in Israel. 2023 forderte Sie eine Beamtin nahe der Klagemauer auf, Ihre Kreuzhalskette abzunehmen. Ist so etwas neu?
Angriffe gab es schon vorher. 2015 verübten ultranationalistische jüdische Israelis einen verheerenden Brandanschlag auf unser Kloster in Tabgha. Mit der jetzigen Regierung hat sich die Lage für Christen verschärft. Benjamin Netanyahu brach mit einem Tabu, als er Rechtsextreme und notorische Christenhasser auf die Regierungsbank holte.

Was genau hat das verändert?
Früher spuckten jüdische Nationalisten mich immer bei Dämmerung oder Nacht an, wenn keine anderen Menschen in der Nähe waren. Jetzt tun sie das vor allen Leuten am helllichten Tag. Sie fürchten keine Konsequenzen für ihr Tun.

Israeli und Palästinenser leiten in diesem Krieg ihre Motive aus einer Leidensgeschichte heraus ab. Ist eine Versöhnung möglich?
Das ist die Frage der Zukunft, vor ihr steht die ganze Region: Wollen wir weiter auf Spaltung setzen oder auf Versöhnung und Miteinander? Der Krieg reisst so viele Wunden auf. Was dieses Land dringend braucht, ist Heilung und nicht noch mehr Verwundungen. Es braucht ein gemeinsames Trauern. Es gibt hier Gott sei Dank wunderbare kleine Organisationen, die sich für den Frieden einsetzen. Ich hoffe, dass diese Menschen, die Kraft haben, diesen Weg konsequent weiterzugehen.

Der israelische Autor und Friedensaktivist Amoz Oz (1939–2018) hielt mehrmals eine Rede auf den «unvollkommenen Kompromiss» zwischen «Gemeinschaften, die immer getrennt und unterschiedlich sein werden». Teilen Sie das?
Ich teile das vollkommen. Netanyahu und Abbas fahren nach New York zur Uno und lassen sich dafür feiern, dass sie keinen Millimeter nachgegeben haben. Amoz Oz sagte mir einmal persönlich, mit einer solchen Haltung hätte er seine Ehe nicht führen können. Zusammenleben lebt vom Kompromiss. Davon, dass man über seinen Schatten springt. Man muss sich immer wieder im Kleinen vergeben.

Braucht es für eine Vergebung eine Anerkennung von Schuld?
Natürlich. Ich bin jetzt etwas hart: Wir haben derzeit einen Opferwettbewerb. Beide Seiten werben darum, dass sie durch eine viel schlimmere Hölle gehen als die anderen. Was fehlt, ist zu sagen: Da habe ich mich schuldig gemacht, da bin ich Täter.

Was könnte die Schweiz zu einem allfälligen Friedensprozess beitragen?
Die Schweiz könnte aus ihrer Neutralitätsposition heraus die religiösen Führer der Region an einen Tisch bitten. Die Scharfmacher in diesem Konflikt sind ja nicht sie, es sind Hooligans der Religionen wie die Hamas oder die radikalen Siedler. Die Religionsführer könnten eine gemeinsame, konstruktive religiöse Stimme entwickeln. Jetzt wäre eine Sternstunde dafür.

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