Zehntausende Flüchtlinge
«Das tut der Schweiz gut!»

Integrationsexperte Thomas Kessler ist sicher: Die Schweiz schafft die Aufnahme der Ukrainer problemlos. Das zeige die Geschichte der Balkan-Flüchtlinge.
Publiziert: 03.04.2022 um 18:54 Uhr
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Aktualisiert: 03.04.2022 um 20:01 Uhr
Camilla Alabor

Rund 22'000 Ukrainerinnen und Ukrainer haben sich bis am Freitag beim Bund registriert. Und es dürften noch mehr werden: Die Kantone gehen in ihren Schätzungen von bis zu 300'000 Personen aus, die bis Ende Jahr in der Schweiz Zuflucht suchen. Thomas Kessler, langjähriger Integrationsdelegierter des Kantons Basel-Stadt und einer der führenden Migrationsexperten, sieht darin auch eine Chance.

SonntagsBlick: Herr Kessler, ist die Schweiz bereit für die Aufnahme so vieler Flüchtlinge?
Thomas Kessler: Ja, davon bin ich überzeugt. Wir haben die Strukturen und den guten Willen, die Ukrainer aufzunehmen. Mit etwas Improvisation gelingt uns das. Zumindest, solange wir uns mit unserer Bürokratie nicht selber im Weg stehen.

Mit der Improvisation ist es in der Schweiz oft nicht weit her…
Genau das braucht es jetzt aber. Wir haben zum Beispiel Mehrzweckhallen und gut ausgebaute Schulhäuser. Die müssen wir jetzt kreativ nutzen, indem wir sie auch nach 17 Uhr offen halten und am Wochenende für Weiterbildungen zur Verfügung stellen. Auch die Unterbringung sollte kein Problem sein: Wir haben in der Schweiz viele unterbelegte Hotels und Häuser; 70 000 Neubau-Wohnungen stehen leer.

Bis am Freitag registrierte der Bund rund 22'000 ukrainische Flüchtlinge.
Foto: PIUS KOLLER
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Sie sagen, die Schweiz habe auch etwas davon, wenn sie den Geflüchteten Schutz biete.
Der Anlass für die Flucht ist natürlich tragisch. Es tut der satten Schweiz aber gut, Flüchtlingen helfen zu können. Wir neigen hierzulande zu Trägheit und zum Nörgeln. Nun bekommen wir von Leuten, die hungrig auf Bildung und sozialen Aufstieg sind, den Spiegel vorgehalten: Die Ukrainer sind für ihre Familien und für ihr Land hoch motiviert. Es ist gut, wenn wir uns mit den realen Problemen Europas beschäftigen.

Wie gut ist es denn in der Vergangenheit gelungen, Flüchtlinge zu integrieren?
Die Schweiz wurde von Migranten aufgebaut. Von deutschen Professoren, französischen Unternehmern, italienischen Bauarbeitern. Und wir haben im Jugoslawien-Krieg gesehen, dass unser Land viele Leute aufnehmen und integrieren kann. Die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Balkan ist eine Erfolgsgeschichte: Ganze Branchen wie die Logistik, Auto-Wirtschaft oder Sicherheit sind geprägt von der zweiten Generation jener, die damals geflüchtet sind. Auch die Ukrainerinnen werden hierzulande für neue Impulse sorgen.

Wie meinen Sie das?
Gerade im IT-Bereich sind die Ukrainer weiter als die Schweiz. Zudem ist es in der Ukraine völlig normal, dass Frauen Naturwissenschaften studieren. Und nicht zuletzt wird die Tatsache, dass viele Frauen mit Kindern kommen, die Schweiz zwingen, endlich eine bezahlbare Kinderbetreuung sicherzustellen. Die Stadt Bern hat mit Kita-Betreuungsgutscheinen bewiesen, dass das problemlos geht. Nun braucht es solche Modelle auch für den Rest der Schweiz – und zwar rasch.

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