Darum ist Yasar Nasery mit 15 aus Afghanistan geflüchtet
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Ohne Familie in der Schweiz:Darum ist Yasar Nasery mit 15 aus Afghanistan geflüchtet

Zahl der minderjährigen Flüchtlinge explodiert – einer von ihnen war Yasar (19)
«In Afghanistan hätte ich keine Zukunft»

In der Schweiz suchen immer mehr unbegleitete Jugendliche Asyl – das bringt die Kantone an den Anschlag. Doch die Geschichte des Afghanen Yasar Nasery (19) zeigt, dass sich die intensive Betreuung auszahlen kann.
Publiziert: 22.05.2023 um 00:34 Uhr
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Aktualisiert: 22.05.2023 um 07:09 Uhr
Yasar Nasery (19) ist im Alter von 15 Jahren allein nach Europa geflohen. Er hatte Angst, in seiner Heimat verhaftet zu werden.
Foto: STEFAN BOHRER
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Lea HartmannRedaktorin Politik

Er lief zu Fuss, schwamm, reiste per Auto und im Frachtraum eines Lastwagens. Die Flucht von Afghanistan in die Schweiz führte Yasar Nasery (19) durch zehn Länder. Rund ein Jahr nachdem er seine Heimatstadt Kabul verlassen hatte, kam der damals 15-Jährige im Hochsommer 2020 mit dem Zug in Genf an. Und stellte ein Asylgesuch.

Yasar Nasery war bei seiner Ankunft im Asylzentrum ein sogenannter UMA – ein unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender. Deren Zahl ist in den vergangenen zwei Jahren massiv gestiegen. 989 unbegleitete Kinder und Jugendliche haben 2021 ein Asylgesuch gestellt, 2022 waren es rund zweieinhalbmal so viel. Und die Zahl nimmt weiter zu.

«Ich hatte Angst, verhaftet zu werden»

Inzwischen stammt jedes zehnte Asylgesuch von Kindern oder Jugendlichen, die ohne ihre Eltern oder andere erwachsene Bezugspersonen in die Schweiz gekommen sind. Vor fünf Jahren waren es noch vier Prozent, vor zehn Jahren gar nur knapp zwei Prozent. Die allermeisten sind wie Nasery junge Afghanen zwischen 16 und 17 Jahren.

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Dass er in der Schweiz gelandet sei, sei Zufall, sagt Nasery. Als er Kabul den Rücken kehrte, hatte er kein Ziel. Hauptsache weg. «Die Flucht war nicht geplant.» Er erzählt, dass er erwischt worden sei, als er mit seiner Freundin zusammen war. Jemand habe das sittenwidrige Verhalten den Behörden gemeldet. «Ich hatte Angst, dass ich verhaftet und im Gefängnis möglicherweise umgebracht werde», sagt er.

Wie alle Asylsuchenden kam Nasery in der Schweiz zuerst in ein Asylzentrum des Bundes. Später wohnte er für kurze Zeit in einem Heim für unbegleitete Jugendliche in Oberwil BL. Von dort sind es zu Fuss nur wenige Minuten bis zum Wohnblock, in dem der junge Afghane heute lebt. Ein Bett zum Schlafen, ein Tisch zum Essen, ein kleines Sofa: Die karg eingerichtete Einzimmerwohnung im zweiten Stock ist seit vergangenem November sein Zuhause.

«Auf einmal so allein zu sein, war am Anfang schwierig», erzählt Yasar Nasery. Der junge Mann mit Lockenkopf spricht inzwischen sehr gut Hochdeutsch. Er wirkt reflektiert und zurückhaltend.

Arbeiten hilft gegen die Einsamkeit

An den Wänden in seiner Wohnung hängen keine Fotos von Familie und Freunden. Doch er vermisse sie, gerade an Feiertagen, erzählt Nasery. Seine Mutter und seine Geschwister leben noch immer in Afghanistan, sein Vater, zu dem er ein etwas schwieriges Verhältnis hat, schon lange in London. «Ab und zu rufe ich sie an. Doch das Internet in Afghanistan ist schlecht und sehr teuer.»

Gegen die Einsamkeit hilft ihm die Arbeit. Nasery macht eine Lehre als Assistent Gesundheit und Soziales in einem Altersheim in Oberwil – in einer Branche also, in der Personal händeringend gesucht wird. Er führt inzwischen ein selbstständiges Leben. Einmal in der Woche kann er sich, falls Bedarf besteht, mit seinem Betreuer treffen.

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Kantone am Anschlag

Unbegleitete Kinder und Jugendliche haben gestützt auf die UN-Kinderrechtskonvention ein Recht auf speziellen Schutz. Ihr Asylgesuch wird prioritär behandelt und sie werden viel enger begleitet als erwachsene Asylsuchende – was ein Grund ist, weshalb oft auch Erwachsene versuchen, sich als minderjährig auszugeben.

Angesichts des grossen Betreuungsaufwands stellt die starke Zunahme von unbegleiteten Jugendlichen die Kantone vor grosse Herausforderungen. Blick liegt die aktuelle Statistik der Kantone vor. In über der Hälfte der Kantone herrscht bei der UMA-Unterbringung derzeit Stufe Rot. Das bedeutet, dass die Kantone grosse Schwierigkeiten haben, eine angemessene Unterbringung sicherzustellen. Und ab Mitte Jahr rechnet man nochmals mit einem Ansturm.

Die Behörden sind unter Hochdruck auf der Suche nach neuen Unterkünften, Betreuungspersonal und Pflegefamilien für Kinder. Der Kanton Bern beispielsweise hat seit Mitte vergangenen Jahres fünf neue Wohnheime eröffnet, in diversen Kantonen werden Pflegefamilien gesucht. Die Aargauer Regierung musste beim Bund zwischenzeitlich einen Aufnahmestopp beantragen, weil man keine freien Betten mehr hatte.

Corona ist ein Flüchtlings-Treiber

Grund für die starke Zunahme dürfte laut dem Bund sein, dass sich die Situation in den Herkunfts- und Transitländern durch die Covid-Pandemie nochmals stark verschlechtert hat. Gleichzeitig wurde das Reisen wieder einfacher. Und in Afghanistan haben seit der Machtübernahme der Taliban schätzungsweise 1,6 Millionen Menschen das Land verlassen.

Baselland, wo Yasar Nasery lebt, bekommt heute vom Bund in einem Monat mehr Jugendliche zugeteilt als im gesamten Jahr 2020, erzählt Pascal Brenner. Er ist Leiter des Zentrums Erlenhof, das im Kanton für die Betreuung und Unterbringung unbegleiteter Jugendlicher zuständig ist.

Sie kommen, um zu bleiben

Nasery sei überhaupt kein Einzelfall, sagt er. Ganz anders als das Bild, das viele von unbegleiteten Minderjährigen haben, seien diese meist sehr zielstrebig und motiviert. Dies bestätigen auch Fachpersonen aus anderen Kantonen.

Denn für die allermeisten stehe fest, dass sie in der Schweiz bleiben wollen. «Das müssen wir ernst nehmen und uns intensiv um ihre Integration kümmern», findet Brenner. Er ist überzeugt, dass sich das langfristig für die Schweiz lohnt.

Auch Yasar Naserys Ziel ist es, so schnell es geht, von der Sozialhilfe wegzukommen und eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten. Ob es die richtige Entscheidung war zu fliehen? «Ja», sagt er, ohne lange zu überlegen. «In Afghanistan hätte ich keine Zukunft, wäre nach der Ausbildung arbeitslos.» Sein Traum ist es, Sozialarbeiter zu werden. Um einmal jenen Menschen helfen zu können, die wie er als Flüchtlinge in die Schweiz kommen.

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