Vor allem bei Keuchhusten herrscht ein erschreckender Mangel
Uns gehen die Impfstoffe aus!

Alarmierend: Eine ganze Reihe von Impfungen kann derzeit nicht durchgeführt werden. Politiker und Experten wollen den Import von Präparaten lockern.
Publiziert: 18.06.2017 um 15:08 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 00:41 Uhr
Simon Marti und Ruedi Studer

In der Schweiz fehlt es zurzeit an Impfstoffen für den Kampf gegen heimtückische Krankheiten. Viele Ärzte können kaum genügend Impfdosen gegen Diphtherie, Starrkrampf, Kinderlähmung und Keuchhusten besorgen und müssen auf weniger geeignete, alternative Impfungen umstellen. Betroffen sind vor allem Kleinkinder, Säuglinge und Schwangere mit noch ungeborenen Kindern und Erwachsene. Der Mangel ist umso befremdlicher, als der medizinische Versorgungsgrad in der Schweiz sonst sehr hoch ist.

Diese Impfstoffe gehen aus

Am vergangenen Mittwoch teilte die Meldestelle des Bundesamts für wirtschaftliche Landesversorgung mit, dass bei den Impfstoffen, die Kinder vor Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten  schützen, Versorgungsengpässe bestehen. Sie werden teilweise erst im Herbst behoben werden können.

«Beunruhigende Situation»: SP-Nationalrätin und Gesundheitspolitikerin Bea Heim.
Foto: Keystone

Gesundheitspolitiker sind alarmiert. SP-Nationalrätin Bea Heim (71) spricht von einer «beunruhigenden Situation, insbesondere für Kinder und deren Eltern». Seit Jahren fordert die Solothurnerin mehr Sicherheit bei der Medikamentenversorgung. Doch eine echte Verbesserung lässt auf sich warten: Die Pflicht zur Lagerung wichtiger Impfstoffe wird erst bis 2019 umgesetzt. «Die politischen Mühlen mahlen langsam, dabei geht es doch um den Schutz unserer Kinder!», sagt sie. Da zudem viele Firmen die komplexe Herstellung von Impfstoffen scheuten, konzentriere sich deren Produktion auf wenige Hersteller.

Vom Mangel an Impfstoffen sind insbesondere Kinder und Schwangere betroffen.
Foto: Getty Images

Die Folge: Einige wichtige Medikamente werden knapp. So fehlt etwa der Einzelimpfstoff gegen Polio. Dieses Virus kann Kinderlähmung verursachen und ist in Teilen Afrikas und Asiens noch immer traurige Realität. Weshalb sich insbesondere Reisende impfen sollten.  Nun sehen sich Ärzte gezwungen, auf kombinierte Präparate zurückzugreifen, die nebst Polio noch vor anderen Erkrankungen schützen – für die aber eine Impfung häufig gar nicht nötig wäre. Gleiches gilt für Impfstoffe gegen Diphtherie und Starrkrampf. «Flexibilität ist gefragt in Schweizer Praxen und Spitälern», erklärt der Kinderarzt und Wissenschaftliche Sek-retär der Eidgenössischen Kommission für Impffragen, Daniel Desgrandchamps (59). «Es ist bisher  eigentlich immer möglich gewesen, mit etwas Fantasie die Engpässe zu umschiffen.»

«Es gibt keine Alternativen!»

Doch manchmal sind auch die findigsten Geister am Ende ihres Lateins. Beispiel Keuchhusten: Eine für Säuglinge und Neugeborene lebensgefährliche Infektion. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) empfiehlt, im Kampf gegen die Krankheit schwangere Frauen zu impfen. Diese übertragen ihre Antikörper an die ungeborenen Kinder. Doch der einzige Kombinationsimpfstoff für Erwachsene, der vor Keuchhusten schützt, ist seit kurzem ebenfalls nicht mehr lieferbar. Und so können derzeit keine Schwangeren in der Schweiz gemäss dem eigentlichen Plan des BAG geimpft werden.

«Flexibilität ist gefragt»: Kinderarzt und Impfexperte Daniel Desgrandchamps.
Foto: ZVG

«Zum ersten Mal im Verlauf meiner langjährigen Impfexperten-Karriere sehe ich mich nun ausserstande, anfragenden Ärztekollegen eine valable Alternative für eine wichtige und ausdrücklich empfohlene Präventionsmassnahme aufzuzeigen», sagt Desgrandchamps. Und Parlamentarierin Heim warnt: «Der Keuchhusten kann für Säuglinge tödlich verlaufen!» Sie habe sich bei Desgrandchamps nach Alternativen erkundigt. Antwort: «Es gibt keine! Die Ärzte können allenfalls beim Hersteller oder Grossisten nachfragen, ob irgendwo noch einige Dosen verfügbar sind.»

Experten und Heim mahnen beide den Bund an seine Aufgaben: Dieser hätte den Aufbau von Pflichtlagern zwar begonnen, doch stünden diese noch nicht zur Verfügung. «Es wird derzeit abgeklärt, ob über die Armeeapotheke Sonderimporte vorgenommen werden können.» Impfstoffe aus den Nachbarländern also. «Entschärft würde die Situation sicher, wenn wir ähnlich viele alternative Impfstoffe zur Verfügung hätten, wie das im umliegenden Ausland der Fall ist», so Impfexperte Desgrandchamps. Bea Heim verlangt eine Vereinfachung von Zulassung und Import von Impfstoffen, die in der EU zugelassen sind. Derzeit seien alleine 30 Impfstoffe, die in der Union erhältlich sind, hierzulande nicht verfügbar.

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