Neue Erkenntnisse zur Gefahr im eingestürzten Mitholz-Munitionslager
Explosionsgefahr im Kandertal

70 Jahre lang hat der Bund die Gefahr unterschätzt. Jetzt kommen Experten zum Schluss: Das ehemalige Munitionslager Mitholz in der Gemeinde Kandergrund BE, das Ende 1947 explodierte, ist noch immer eine grosse Gefahr.
Publiziert: 28.06.2018 um 17:01 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 16:59 Uhr
Munitionsrückstände in Mitholz könnten explodieren
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Bundesrat Parmelin beruhigt Bevölkerung:Munitionsrückstände in Mitholz könnten explodieren
Pascal Tischhauser

Weil das Verteidigungsdepartement VBS prüfen wollte, ob sich der Standort Mitholz in Kandergrund BE für ein unterirdisches Rechenzentrum eignet, haben externe Experten anhand der historischen Dokumente und mit Begehungen einen Bericht verfasst. Und die sind brisant. Denn sie zeigen: Beim 1947 eingestürzten Munitionslager Mitholz und im Schuttkegel davor lagen hunderte Tonnen Sprengstoff – darunter 50-Kilo-Fliegerbomben und andere Bomben mit Zünder. Sie könnten schon morgen explodieren.

Zu diesem Schluss kommt eine Neubeurteilung des Verteidigungsdepartements. Ein Felssturz, ein Einsturz weiterer Anlageteile oder auch eine plötzliche Selbstentzündung der Munitionsrückstände könnte jederzeit eine Explosion verursachen.

Der friedliche Schein trügt: So sieht es im Mitholz heute aus. Doch unter der Idylle liegen mehrere Hundert Tonnen Sprengstoff.
Foto: Pascal Tischhauser
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Truppenunterkunft und Apothekenlager geschlossen

Als Sofortmassnahme hat der Bundesrat gestern beschlossen, im Mitholz die Truppenunterkunft des Militärs und ein Lager der Armeeapotheke, die in unmittelbarer Nähe zu den Munitionsrückständen liegen, sofort zu schliessen. Wäre es zu einer Explosion von einer Tonne Sprengkraft gekommen, wären 50 Prozent der Armeeangehörigen in der Truppenunterkunft zu Tode gekommen.

Eine stärkere Explosion mit einer Sprengkraft von zehn Tonnen hätte wohl niemand in der Unterkunft überlebt. Deutsche Experten sagen, ihnen sei in ganz Europa keine vergleichbare Stelle bekannt, von der eine so grosse Gefahr ausgehe.

Der Bund setzt nun eine Arbeitsgruppe ein, die Massnahmen und Empfehlungen zum Schutz der Anwohner ausarbeitet. Derzeit ist unklar, ob es am besten ist, die Gefahrenstelle zu verschiessen oder zu räumen. Sofortmassnahmen seien hier nicht erforderlich, sagte Bundesrat Guy Parmelin (58). Für die Bevölkerung ist eine Informationsseite im Internet aufgeschaltet und die Hotline 058 464 73 00 installiert worden.

Die rätselhafte Katastrophe

In der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember 1947 flog das Munitionslager der Schweizer Armee oberhalb von Mitholz in der Gemeinde Kandergrund BE in die Luft. Bei der Katastrophe kam es zu mehreren Explosionen, wobei zwei davon zu den grössten künstlichen Explosion gehören, die nicht durch Atomwaffen verursacht wurden.

Die Flucht nach der Explosion im Kandertal
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Eine Augenzeugin berichtet:Die Flucht nach der Explosion im Kandertal

Auf der Webseite der festung-oberland.ch schildert Zeitzeuge Hans Rudolf Schneider – damals ein zehnjähriger Bub – die dramatischen Ereignisse: «Wir erwachten auf einmal alle von einem furchtbaren Beben und beim Stollen war ein riesiges Feuer, das Du Dir nicht vorstellen kannst. Vater sagte sofort anziehen und fort. Nach einer Weile gab es einen zweiten und noch festeren Stoss. Da schlug es Türe und Fenster ein…»

Neun Menschen, darunter drei Kinder, verloren bei der Katastrophe ihr Leben: Bahnhofvorstand Hans Tschumi und sein Sohn Hansueli, Anlagewart Karl Kast und seine Frau Verena, Annelisi Künzi und ihre Grosskinder Luise und Samuel, Christian Künzi sowie Marie Trachsel.

Sieben weitere Personen wurden verletzt. Wohnhäuser des in der Nähe gelegenen Dorfes Mitholz wurden verwüstet und die Station Blausee-Mitholz der Lötschbergbahn zerstört.

Tonnenschwere Felsbrocken hunderte Meter weggeschleudert

Bis heute ist ungeklärt, wie es genau zu den Detonationen kam, von denen die zweite um 23.35 Uhr noch vom 115 Kilometer entfernten Schweizerischen Erdbebendienst in Zürich registriert wurde. Kurz nach Mitternacht kam es zur heftigsten Explosion. Anwohner berichteten von einer etwa 150 Meter hohen Stichflamme, die die Detonation begleitete.

Die gesamte Felswand, in der sich das Munitionsdepot befand, war eingestürzt, 250'000 Kubikmeter Gestein lösten sich. Tonnenschwere Felsbrocken wurden Hunderte Meter weit und eine Fliegerbombe gar zwei Kilometern weit weggeschleudert. 

Über Nacht obdachlos

Teils in Unterwäsche seien die Menschen vor den Gesteinsbrocken, Trümmern, Splittern und Munitionsresten geflohen. Viele Familien wurden über Nacht obdachlos.

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