30 Prozent weniger Lohn als Männer
Jetzt drohen Ärztinnen mit Klage!

Sie haben genug: Die oberste Schweizer Ärztin Adelheid Schneider-Gilg fordert ihre Kolleginnen auf, Lohngleichheit einzuklagen. Mit Rückendeckung von Politikerinnen von links bis rechts.
Publiziert: 30.10.2018 um 01:30 Uhr
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Aktualisiert: 12.08.2021 um 11:54 Uhr
Cinzia Venafro

Sie ist die Galionsfigur der Schweizer Medizinerinnen im Kampf gegen Frauendiskriminierung. Die Berner Anästhesistin Natalie Urwyler (44) verklagte mit Erfolg das Berner Inselspital wegen Verletzung des Gleichstellungsgesetzes. Unter anderem wurde ihr gekündigt, weil sie nach der Geburt ihrer Tochter nicht mehr zu 100 Prozent arbeiten konnte. Zuvor hatte sie während einer Nachtschicht eine Fehlgeburt erlitten – und trotzdem weitergearbeitet, bis ihre Schicht zu Ende war.

Oberste Ärztin Schneider-Gilg fordert zu Klagen auf

Heute sagt die Mutter einer fünfjährigen Tochter: «Ich bin aufgestanden. Ich hoffe, ich habe nur den Anfang gemacht.» Jetzt bestätigt ausgerechnet das Bundesamt für Gesundheit (BAG) Urwyler in ihrem Kampf. Denn die BAG-Lohnstudie kommt zum Schluss: Schweizer Ärztinnen verdienen rund 29 Prozent weniger als Ärzte. Das BAG schreibt von «systematischen Einkommensunterschieden».

29 Prozent! Diese Zahl sei «ein Weckruf», so Adelheid Schneider-Gilg (66), Präsidentin von «Ärztinnen Schweiz», zu BLICK. Gemeinsam mit Natalie Urwyler sagt die oberste Schweizer Ärztin darum: «Wir fordern unsere Kolleginnen auf: Werdet laut und wehrt euch. Wir dürfen diesen Missstand nicht länger akzeptieren.» Zudem müssten Spitäler sich für Lohngleichheit zertifizieren lassen.

Natalie Urwyler aus Brig arbeitete elf Jahre lang als sehr erfolgreiche Anästhesieärztin im Berner Inselspital. Nach der Geburt ihrer Tochter im Juni 2014 wurde ihr gekündigt. Sie machte vor Gericht eine systematische Diskriminierung geltend und gewann. Für ihr Engagement ist sie für den Prix Courage der Zeitschrift «Beobachter» nominiert.
Foto: OLIVIER_LOVEY
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Doch wieso verdienen Ärztinnen derart massiv weniger? Zum Vergleich: Über alle Branchen gerechnet werden Frauen in der Schweiz mit 18 Prozent weniger entlöhnt.

Werdende Väter stellen selbstverständlich Lohnforderungen

«Frauen haben als Mädchen nicht gelernt, ihr Recht einzufordern», meint Natalie Urwyler. Männliche Arbeitskollegen würden beispielsweise mehr Lohn fordern, wenn sie Väter würden. «Mich fragte man verdutzt, warum ich denn mehr Geld brauche. Ich hätte doch einen Mann, der verdiene.»

Auch Adelheid Schneider-Gilg wurde einst diskriminiert. Im Spital hätte sie schlicht nicht bemerkt, dass sie weniger verdiente. Erst als sie eine eigene Praxis gründete, sei es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen. «Wir Frauen treiben das Geld einfach schlechter ein. Wir nutzen nicht alle Möglichkeiten.» Es habe sie eigentlich nicht gestört, da sie «nach bestem Wissen und Gewissen» die Rechnungen schrieb. «Aber angesichts dieser Studie dürfen Ärztinnen nicht mehr so weitermachen.»

Die Machokultur in der Medizin

Unterstützung erhalten die Medizinerinnen aus der Politik. SP-Gesundheitspolitikerin Yvonne Feri (52, AG): «Ärztinnen müssen jetzt laut werden, wie Frau Urwyler das gemacht hat. Wenn die Analyse ergibt, dass gleiche Pensen verglichen werden und auch die gleiche Art der Anstellung, dann sollen die Frauen klagen.»

Feris Parteikollegin Bea Heim (72, SO) musste einst ihr Medizinstudium eineinhalb Jahre vor dem Staatsexamen aufgeben. «Ich wurde schwanger und es fehlte jegliche Infrastruktur, um mein Kind in Obhut geben zu können.» Heute kenne sie mehrere Ärztinnen, «die am eigenen Leib erfahren mussten, wie hart die gläserne Decke in der Spitalwelt ist». In der Medizin herrsche eine Macho-Kultur. «Die Folgen sind unter anderem Lohndifferenzen und Karrierebremsen.»

SVP-Nationalrätin Yvette Estermann (51, LU) hat einst Medizin studiert und sagt heute: «Hier werden auf dem Buckel der Frauen Kosten gespart.» Es werde subtil an die soziale Ader von Ärztinnen appelliert. «Wir Frauen sind leider eher bereit, für weniger Geld zu arbeiten. Diese Studie zeigt, dass damit endlich Schluss sein muss.»

Zur Klage rät auch FDP-Gesundheitspolitikerin Isabel Moret (47, VD): «Eine Lohndiskrepanz von rund 30 Prozent ist nicht akzeptabel und sendet ein falsches Signal an die vielen Medizinstudentinnen.»

Ein gutes Signal könnte Anästhesistin Urwyler am Freitag erhalten: Sie ist für den «Prix Courage» der Zeitschrift «Beobachter» nominiert.

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