Rahmenabkommen vor dem Aus
«Ein Nein hat keine sofortigen Konsequenzen»

Gewerkschafts-Chef Pierre-Yves Maillard hat Zweifel, ob das Rahmenabkommen noch zu retten ist. Eine Katastrophe findet er das nicht.
Publiziert: 25.04.2021 um 12:14 Uhr
Interview: Camilla Alabor und Simon Marti

SonntagsBlick: Die Schweiz und die EU wollen beim Rahmenabkommen weiter im Gespräch bleiben, allen Differenzen zum Trotz. Hat es Bundespräsident Parmelin verpasst, der EU eine klare Absage zu erteilen?
Pierre-Yves Maillard: Die Schweiz hat klarer gesprochen, das ist ein Fortschritt. Noch besser wäre es gewesen, der Bundesrat und die Parteien hätten vor zwei Jahren deutlich Stellung bezogen und der EU erklärt: Mit diesem Text finden wir kaum Mehrheiten. Jetzt sehen wir, dass nur noch die GLP uneingeschränkt hinter dem vorliegenden Abkommen steht. Sogar die Wirtschaftsverbände sind stark gespalten.

Dennoch gehen die Gespräche weiter.
Ja. Aber ich sehe je länger, je weniger, wie dieser Text noch zu retten ist.

Sie plädieren gar dafür, die Verhandlungen mit der EU abzubrechen. Warum sollte die Schweiz den grossen Nachbarn provozieren?
Was ich sagte: Ein Neuanfang auf anderer Basis wäre für uns besser. Die Gewerkschaften sind für gute Beziehungen mit der EU! Diskutieren muss man aber immer.

Pierre-Yves Maillard, Präsident des Gewerkschaftsbundes: «Persönlich fände ich das auch schön, in einem grossen, demokratischen und sozialen Europa zu leben. Aber die EU hat sich in eine andere Richtung entwickelt.»
Foto: Keystone
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Das klingt konstruktiv. Die Gewerkschaften haben während Monaten so getan, als hänge das Schicksal des Landes von der viel zitierten Acht-Tage-Regel für ausländische Betriebe ab.
Falsch! Das wurde von den Kräften in der Schweiz, die den Arbeitsmarkt weiter liberalisieren wollen, so dargestellt. Natürlich braucht es eine angemessene Anmeldefrist, um Kontrollen zu organisieren. Aber es geht um viel mehr. Gemäss dem Rahmenvertrag kann der Europäische Gerichtshof den gesamten Lohnschutz unter Druck stellen.

Sie klingen wie die SVP, die vor den fremden Richtern warnt.
Nein. Wir sind nicht grundsätzlich gegen fremde Richter. Die Menschenrechte brauchen eine überstaatliche Autorität. Das befürworten wir absolut. Aber bei den Löhnen und beim Service public hat die Schweiz Besonderheiten. In diesen Bereichen brauchen wir eigene Regeln. Das schadet den EU-Bürgern nicht, im Gegenteil.

Auch die EU hat das Prinzip verankert: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Warum soll das nicht für die Schweiz gelten?
Der europäische Gewerkschaftsbund hat uns mehrmals erklärt, dass dieses Prinzip regelmässig verletzt werde. In österreichischen Zügen arbeiteten Personen aus Ungarn für 500 Euro pro Monat. Gemäss dem Europäischen Gerichtshof ist das legal.

Wenn die europäischen Standards die Löhne drücken, warum hat Ihre Partei noch immer den EU-Beitritt im Programm festgeschrieben?
Persönlich fände ich das auch schön, in einem grossen, demokratischen und sozialen Europa zu leben. Aber die EU hat sich in eine andere Richtung entwickelt, bei allen guten Aspekten, die sie aufweist.

Warum schlug die EU diese Richtung ein?
Ein politisch geeintes Europa schien nur über den Weg der Liberalisierung möglich. Dann sollte das soziale Europa kommen. Das ist nicht passiert. Die Leidtragenden sind die Arbeitnehmer. Und dadurch die Sozialdemokratie. Hätte man mir vor 20 Jahren gesagt, dass die französischen Sozialisten bei sechs und die deutsche SPD bei 13 Prozent steht, hätte ich das nie geglaubt.

Persönlich

Lehrer und Gewerkschafter Pierre-Yves Maillard (53) politisiert erst im Gemeinderat von Lausanne, dann im Grossen Rat des Kantons Waadt und schaffte 1999 schliesslich den Sprung in den Nationalrat. Von 2004 bis 2019 war Maillard Staatsrat im Waadtland. 2011 unterlag er bei der Bundesratswahl gegen Alain Berset. Im Dezember 2018 wählte der Schweizerische Gewerkschaftsbund Maillard zum Präsidenten. Seit 2019 politisiert er wieder im Nationalrat.

Lehrer und Gewerkschafter Pierre-Yves Maillard (53) politisiert erst im Gemeinderat von Lausanne, dann im Grossen Rat des Kantons Waadt und schaffte 1999 schliesslich den Sprung in den Nationalrat. Von 2004 bis 2019 war Maillard Staatsrat im Waadtland. 2011 unterlag er bei der Bundesratswahl gegen Alain Berset. Im Dezember 2018 wählte der Schweizerische Gewerkschaftsbund Maillard zum Präsidenten. Seit 2019 politisiert er wieder im Nationalrat.

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Darum hofft die SP Schweiz auch, dass das Rahmenabkommen nie ins Parlament kommt, damit ihr diese Zerreissprobe erspart bleibt.
Ich habe überhaupt keine Angst vor dieser Debatte, weil wir die Löhne und den Service public verteidigen werden.

Und dann kämpfen Sie Seite an Seite mit der SVP gegen das Abkommen?
Die SVP macht, was sie will, das ist nicht unser Problem. Es gibt nur zwei Positionen in einer Abstimmung: Ja oder Nein. Wir positionieren uns entsprechend unserer Analyse des Textes. Und die sagt uns, das Rahmenabkommen nützt den Arbeitnehmenden in der Schweiz nicht.

Sie haben aber auch gesagt, diese Abstimmung wäre ein Geschenk für die SVP. Was ist das anderes als Parteipolitik?
Wenn die Befürworter des Rahmenvertrags eine Abstimmung forcieren, wo kaum eine Mehrheit von Volk und Kantonen zu erreichen ist, muss man sich doch fragen, wohin das führt. Wer profitiert davon? Die europäische Idee? Nein, es profitiert die SVP, die im Herbst mit ihrer Begrenzungs-Initiative eine deutliche Niederlage erlitten hat.

Dennoch: Hat das Volk nicht das Recht, über den Vertrag zu befinden? Schliesslich hat die Stimmbevölkerung den bilateralen Weg immer gestützt.
Das Volk hat auch die Masseneinwanderungs-Initiative angenommen, die bei strikter Umsetzung das Ende der Personenfreizügigkeit und der Bilateralen bedeutet hätte. Die Bevölkerung sagt dann Ja zum bilateralen Weg, wenn die SVP alleine kämpft und wenn die flankierenden Massnahmen den Arbeitnehmenden genügend Sicherheit geben. Was nicht immer der Fall ist, wie wir 2014 gesehen haben.

Welche Perspektive gibt es denn, wenn der Bundesrat Nein sagt zum Rahmenabkommen?
Wir wollen keinen Abbruch der Gespräche mit der EU. Aber: Ein Scheitern des Abkommens bedeutet nicht das Ende der Bilateralen, wie es so oft fälschlicherweise heisst. Die bilateralen Verträge bestehen weiterhin.

Bleibt die Aktualisierung der Verträge aus, haben gewisse Branchen Mühe, ihre Produkte weiterhin in die EU zu exportieren.
Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was einige Verbände öffentlich sagen, und den Gesprächen hinter verschlossenen Türen. Die Unternehmen bereiten sich auf den Fall vor, dass die EU bestimmten Branchen die Anerkennung ihrer Produkte verweigert. Wir bedauern diese ungerechten Gegenmassnahmen. Doch am Ende kommt es nicht immer so schlimm wie befürchtet. Die Geschichte der Börsenäquivalenz hat es gezeigt.

Dann lügen die Wirtschaftsverbände, wenn sie sagen, mit der Zeit würden sich Arbeitsplätze ins Ausland verlagern?
Nein, aber dieses Argument bringen die Wirtschaftsverbände bei jeder Abstimmung.

Und deswegen stimmt es nicht?
Das ist ihre Argumentation. Tatsache ist: Ein Nein zum Abkommen hat keine sofortigen juristischen Konsequenzen. Und auf die langfristigen Folgen haben wir selber einen Einfluss.

Eine unmittelbare Konsequenz wäre: Den Schweizer Unis droht der Ausschluss aus dem EU-Forschungsprogramm.
Wir müssen der EU faire Vorschläge machen. Falls das Rahmenabkommen scheitert, öffnen sich vielleicht andere Möglichkeiten, wo sich die Schweiz solidarisch und kooperativ zeigen kann. Gerade bei der Forschung. Zudem sind die Universitäten in der Schweiz stark positioniert, auch dank der intensiven Unterstützung durch die öffentliche Hand.

Es bleibt dabei: Die Universitäten sagen, sie seien auf den Zugang zum EU-Forschungsprogramm angewiesen.
Es gibt keinen perfekten Weg aus dieser schwierigen Situation. Für uns ist die Lohnfrage entscheidend. Ohne genug Sicherheit bei den Löhnen ist die nächste Abstimmung über die Personenfreizügigkeit schon verloren. Und damit auch die Bilateralen.

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