Professor warnt vor Widerspruch mit Menschenrechtskonvention
Strassburger Richter könnten Sozialdetektive stoppen

Auf Geheiss des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat das Parlament ein neues Überwachungsgesetz verabschiedet. Die Gegner bezweifeln, dass es den Anforderungen genügt. Pfeift das Gericht die Schweiz ein zweites Mal zurück?
Publiziert: 23.10.2018 um 00:40 Uhr
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Aktualisiert: 23.10.2018 um 09:05 Uhr
«Mit Blick auf das EGMR-Urteil steht das neue Gesetz auf sehr wackligen Beinen», sagt Kurt Pärli, Professor für Soziales Privatrecht Universität Basel.
Foto: Keystone
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Ruedi Studer

Vor zwei Jahren pfiff der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Versicherungsschnüffler der Suva zurück: Für die Überwachung von Sozialversicherten fehle in der Schweiz die rechtliche Grundlage, befanden die Richter in Strassburg. Und machten deutlich, dass es für eine solche Überwachung ein konkretes Gesetz brauche, in welchem auch die Voraussetzungen und Modalitäten klar geregelt seien.

In Windeseile peitschten daraufhin die Bürgerlichen ein neues Überwachungsgesetz durchs Parlament. Dieses kommt am 25. November an die Urne. Und die Chancen stehen gemäss neusten Umfragen gut, dass das Stimmvolk die Vorlage gutheisst.

Doch nun stellt sich die Frage, wie lange sich die Befürworter über einen allfälligen Abstimmungssieg überhaupt freuen können. Denn zieht ein Betroffener erneut nach Strassburg, ist nicht ausgeschlossen, dass der Gerichtshof das neue Gesetz wieder kassiert. 

Pärli: «Gesetz nicht richtig umgesetzt»

«Mit Blick auf das EGMR-Urteil steht das neue Gesetz auf sehr wackligen Beinen», sagt Kurt Pärli (55), Professor für Soziales Privatrecht an der Universität Basel. So stelle das Urteil von 2016 verschiedene Anforderungen an ein neues Gesetz. Diese sieht Pärli aber nur teilweise erfüllt. «Das Gesetz ist nicht vollständig und nicht richtig umgesetzt», kommt er zum Schluss.

Als Beispiel nennt er etwa, dass die anordnenden, durchführenden und überwachenden Behörden nicht genügend klar geregelt seien. Auch die Art und Weise der Überwachungsmassnahmen seien zu unpräzise formuliert. «Wenn der Gesetzgeber sauber gearbeitet hätte, müssten wir uns nun nicht darüber streiten, ob Drohnen für die Überwachung zulässig sind oder nicht», sagt Pärli. Ebenso unklar sei, wen die Versicherungen als Detektive losschicken dürfen. «Während für externe Ermittler gewisse Bedingungen vorgesehen sind, fehlen solche für versicherungsinterne Detektive vollständig.» 

Richter sensibilisiert

Ob der Gerichtshof eine Korrektur verlangen würde, lasse sich allerdings nicht im Voraus beantworten. «Es ist aber durchaus vorstellbar, dass er den Schutz der Privatsphäre weiterhin tangiert sieht», meint Pärli. «In den bisherigen Urteilen zum Thema Überwachung haben sich die Richter jedenfalls sehr sensibel für die Problematik gezeigt.»

Er hofft allerdings, dass das Gesetz gar nicht auf den Strassburger Prüfstand kommt. «In seiner jetzigen Form ist es absolut unverhältnismässig und verstösst nicht nur gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, sondern auch gegen unsere Bundesverfassung.»

Befürworter wehren sich

Beim zuständigen Bundesamt für Sozialversicherungen wehrt man sich gegen die Vorwürfe. «Das EGMR-Urteil sagt zwar, was geregelt werden muss. Aber nicht wie», sagt Isabelle Rogg, Leiterin Bereich Recht. Zwar verfüge das Gesetz über einen gewissen Abstraktionsgrad und lasse dementsprechend gewissen Spielraum zur Auslegung. Die EGMR-Anforderungen seien darin aber angemessen berücksichtigt worden. «Wir sind daher überzeugt, dass wir nicht noch einmal über die Bücher müssen», so Rogg.

Schub für die Selbstbestimmungs-Initiative

Die Gegner der Versicherungsdetektive sind zuversichtlich, dass das neue Gesetz vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wieder kassiert wird. Und hoffen, dass die Stimmbürger die Vorlage am 25. November schon vorher zurück an den Absender schicken.

Doch das Argument könnte auch eine Steilvorlage für die SVP und ihre Selbstbestimmungs-Initiative sein, über die gleichentags abgestimmt wird. «Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Schweiz urteilt, würde das einmal mehr zeigen, wie ausländische Richter einen Schweizer Volksentscheid aushebeln und wie gross der Einfluss des Völkerrechts auf unsere Gesetze ist», sagt SVP-Nationalrat Hans-Ueli Vogt (48).

Der Vater des SVP-Volksbegehrens gibt allerdings zu, dass selbst ein Ja zur Selbstbestimmung-Initiative daran nichts ändern würde: «Denn bei dieser geht es um Widersprüche auf Verfassungsebene, nicht um einzelne Gesetze.» Sermîn Faki

Die Gegner der Versicherungsdetektive sind zuversichtlich, dass das neue Gesetz vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wieder kassiert wird. Und hoffen, dass die Stimmbürger die Vorlage am 25. November schon vorher zurück an den Absender schicken.

Doch das Argument könnte auch eine Steilvorlage für die SVP und ihre Selbstbestimmungs-Initiative sein, über die gleichentags abgestimmt wird. «Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Schweiz urteilt, würde das einmal mehr zeigen, wie ausländische Richter einen Schweizer Volksentscheid aushebeln und wie gross der Einfluss des Völkerrechts auf unsere Gesetze ist», sagt SVP-Nationalrat Hans-Ueli Vogt (48).

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Beim Befürworterkomitee hält man Pärlis Bedenken ebenfalls für unbegründet. «Das neue Gesetz würde einer Prüfung durch den Gerichtshof standhalten», ist BDP-Nationalrat Lorenz Hess (57) überzeugt. Die Kritik hält er für an den Haaren herbeigezogen. Für ihn ist klar: «Die Gegner zaubern ein letztes Kaninchen aus dem Hut, um damit die Stimmbevölkerung zu verunsichern.»

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