Polnische Dachdecker wären 4310 Franken billiger
Darum ist die Spesenregel in den EU-Verhandlungen eine Knacknuss

Die Spesenregel ist der grosse Zankapfel in den EU-Verhandlungen. Gewerkschaften und Arbeitnehmer lehnen sie wegen ihrer Auswirkungen ab. Ein genauerer Blick zeigt aber: Für einen grossen Teil der entsandten Arbeitskräfte sind die Folgen klein oder unklar.
Publiziert: 22.04.2024 um 00:09 Uhr
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Aktualisiert: 22.04.2024 um 07:09 Uhr
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Céline ZahnoPraktikantin Politik

Die Verhandlungen mit der EU stehen von allen Seiten unter Beschuss. Während die SVP ein neues bilaterales Abkommen grundsätzlich ablehnt, stören sich die Gewerkschaften inzwischen nicht nur am mangelnden Lohnschutz, sondern auch an der EU-Spesenregel. Und selbst der Arbeitgeberseite ist sie ein Dorn im Auge.

Zusammen mit der SVP drohen die Sozialpartner so die gesamten Bilateralen III zu bodigen. Doch hat die Spesenregel tatsächlich so weitreichende Folgen, dass das gesamte institutionelle Abkommen abgelehnt werden muss?

Blick hat ihre Auswirkungen unter die Lupe genommen. Und – Achtung, Spoiler! – die Auswirkungen der Spesenregelung sind derart unklar, dass eine seriöse Antwort bezüglich deren Auswirkungen unmöglich ist.

Die Spesenregel ist der grosse Zankapfel der EU-Verhandlungen. Blick hat die Auswirkungen unter die Lupe genommen.
Foto: imago
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Polnische Dachdecker wären 4130 Franken billiger

Klar ist: Bei der Spesen-Knacknuss geht es um entsandte Arbeitskräfte aus EU-Ländern. Also beispielsweise um Handwerker aus Tschechien, die in unserem Land einen Auftrag ausführen. Momentan gelten für sie die Schweizer Spesenregeln. Für den Zmittag im «Rössli» erhalten die Tschechen die bei uns übliche Spesenpauschale.

Im Rahmen des neuen Abkommens soll die Schweiz jedoch die EU-Spesenregel übernehmen. Das würde generell heissen, dass Arbeiter aus dem EU-Raum bloss Spesen auf dem Niveau ihrer Herkunftsländer erhalten würden.

Aber eben, es ist noch viel komplizierter – und das mit dem Ergebnis, dass ein Auftraggeber in der Schweiz für einen polnischen Dachdecker in einem Monat ganze 4310 Franken weniger bezahlen müsste als für den hiesigen Dachdecker. Das belegen die Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Zugrunde liegt diesem Betrag die Annahme, dass die polnischen und die Schweizer Dachdecker jeden Tag auswärts zu Mittag essen und pro Woche 200 Kilometer mit dem Privatauto für die Firma zurücklegen.

Und warum sind polnische Staatsbürger so viel billiger? Es gilt in der EU doch die Regel: gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Stimmt, aber nicht für Spesen. Gemäss polnischen Regeln erhalten Dachdecker nämlich gar keine Spesenentschädigungen. Fallen Fahrspesen und Verpflegungsentschädigungen weg, ist der Pole deshalb einiges billiger.

Einfallstor für Lohndumping

Ein klarer Fall von «Lohndumping»! Da sind sich Gewerkschaften und Arbeitgeber einig wie selten. Für sie geht nicht an, dass sich ein polnischer Dachdecker, der im Zürcher Niederdorf Biberschwanz-Ziegel verlegt, in der Limmatstadt für Zürcher Preise aus eigener Tasche verköstigen müsste und dessen Anstellung massiv billiger wäre als die des Fachmanns aus dem Kreis 5.

Darum gilt auch für ausländische Firmen: «Wenn ein Arbeitgeber seine Leute auswärts einsetzt, muss er auch die Spesen zahlen», sagt Daniel Lampart (55), Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB).

Dass sich daran nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die Arbeitgeberverbände stören, ist nachvollziehbar: Mit dieser Regelung hätten Firmen aus Tieflohnländern einen gewaltigen Wettbewerbsvorteil gegenüber Schweizer Betrieben. Der hiesige Gewerbeverband stehe der Regelung daher «eher kritisch» gegenüber, sagt deshalb auch eine Sprecherin des Verbands.

Minimale Auswirkungen für mehr als die Hälfte

Natürlich erledigen polnische Arbeiter nicht die Mehrheit der hiesigen Aufträge: Von den 83'296 Personen aus EU-Unternehmen und den rund 20'000 EU-Selbstständigen, die vergangenes Jahr in der Schweiz Aufträge ausführten, stammten laut Seco-Zahlen lediglich vier Prozent aus Polen. Doch ihr Anteil dürfte stark ansteigen, käme es zur neuen Regelung.

Dennoch muss festgehalten werden, dass die Auswirkungen der EU-Spesenregel beim grössten Teil der EU-Entsandten minimal wären. Fast die Hälfte davon stammte 2023 nämlich aus Deutschland, weitere sieben Prozent kamen aus Österreich. Sie werden gemäss deutschen und österreichischen Gesamtarbeitsverträgen noch immer voll entschädigt. Möglich, dass das auch in Zukunft so wäre. Sicher ist das aber längst nicht.

Weitere 17 Prozent der Auftragsausführenden aus der EU kamen aus Italien und zehn Prozent aus Frankreich. Für diese Länder ist es noch schwieriger, vorauszusehen, ob sie einen Wettbewerbsvorteil hätten oder nicht. Laut Seco dürften italienische Dachdecker zwar meist für die Spesen entschädigt werden, das hänge aber oft von einzelnen Arbeitsverträgen ab. Sicher ist das aber nicht. Auch in Frankreich ist die Lage bei Entsendungen unsicher.

Unklare Folgen

Schon für sich allein sind die unklaren Auswirkungen einer Neuregelung problematisch. SGB-Lampart sieht aber zusätzlich noch ein grundsätzlicheres Problem: «Wir können in der Schweiz nicht kontrollieren, ob ein Arbeitgeber seinen Leuten in Deutschland Spesen zahlt. Und wir können ihn auch nicht zwingen, das zu tun. Denn wir können in der Schweiz kein deutsches Recht durchsetzen.»

Für Lampart besteht ein immenses Risiko: Es sei zum Beispiel nur eine Frage der Zeit, bis die EU-Kommission auch Deutschland und Österreich zwingt, ihre Spesenregelung, die dem EU-Recht widerspreche, aufzugeben. Auch bei ihnen droht somit eine Anpassung nach unten.

Die Bilateralen III regelten sicher vieles. Bei den Spesen aber muss in den Verhandlungen noch einige Klarheit geschaffen werden.

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