Politologe Michael Hermann über den Kurs von FDP und SVP
Die Sturheit gefährdet die ganze Rentenreform

Für Politikexperte Michael Hermann zeigt der Knatsch um die Rentenreform auch die verlorene Kompromisskultur. Für die Parteien ist das Beharren auf der Parteilinie inzwischen wichtiger als die Chancen einer Vorlage in der Volksabstimmung.
Publiziert: 24.08.2016 um 18:39 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 17:58 Uhr
Interview: Matthias Halbeis

BLICK: Michael Hermann, die bürgerliche Mehrheit geht auf tutti: Im Rahmen der Rentenreform 2020 will sie das Pensionsalter erhöhen. Selbst der Arbeitgeberverband warnt nun vor einer Niederlage an der Urne. Was sagt das über den Zustand des Systems?
Michael Hermann:
Zunächst einmal ist das ein direkte Folge des Rechtsrutschs bei den letzten Wahlen. Die Stimmbürger wollten eine andere Mehrheit. Jedoch vor allem in Ausländer- und Europafragen. Doch statt nationalkonservativ ist das neue Parlament nun vor allem wirtschaftsliberaler. Anders als bei Ausländerfragen finden SVP und FDP hier meist eine gemeinsame Linie und können sich im Parlament durchsetzen. Das Problem ist nur, dass gerade bei der AHV das Volk gar nicht so rechts, sondern eher Mitte-links ausgerichtet ist. Deshalb genügt es nicht, wenn FDP und SVP im Parlament eine Mehrheit erringen. Nur mit ­einem Kompromiss lässt sich auch eine entsprechende Volksabstimmung gewinnen.

Ist das Beharren von SVP und FDP nicht bloss Taktik, um möglichst viel herauszuholen?
Sicher hat das auch mit Taktik zu tun. Aber eben nicht nur: Es ist auch Ausdruck einer verlorenen Kompromisskultur. Gerade bei Grundsatzfragen beharren die Parteien vermehrt auf ihrer Parteiideologie. Insbesondere bei Reformvorlagen, die mit Einschnitten verbunden sind, lassen sich so kaum noch Mehrheiten an der Urne finden. Und in Sachen Rentenreform könnte selbst ein Kompromiss zwischen Ständerat und Nationalrat für das Volk zu weit gehen.

Dann sind Aufrufe, man müsse jetzt ernsthaft über das Rentenalter 67 diskutieren, kontraproduktiv?
Wenn diese Zahl im Raum bleibt, gefährdet es letztlich das ganze Paket. Die Gegner können so die gesamte Reform an der Frage der Renten­alterserhöhung festmachen. So lässt sich eine Gegenkampagne sehr gut betreiben.

Michael Hermann: «Das Volk will einmal gewonnene Privilegien nicht mehr hergeben.»
Foto: René Ruis

Seit 1995 kam keine Rentenreform mehr durch beim Volk. Was war damals anders?
In den 90er-Jahren schaffte man es, eine Reformvorlage zu zimmern, indem man wirtschaftliche Reformanliegen mit gesellschaftspolitischen Zielen verknüpfte. So etwa, indem man die Rentenreform an die Bedürfnisse von nicht klassischen Familienmodellen anpasste. Das holte die Linke ins Boot, die dafür bereit war, auch Kompromisse bei der Erhöhung des Rentenalters zu machen. Und die Rechte machte mit, weil man die Finanzierungsprobleme anging. Es entstand eine breite Reformallianz. Nur damit vermag man eine solche Abstimmung zu gewinnen.

Tun sich die anderen Länder ähnlich schwer? Bei uns heisst es, ­Lösungen brauchen bei uns länger, dafür halten sie dann viel länger.Es lohnt sich ein Blick nach Skandinavien: Dort wurde der Wohlfahrtsstaat in der Vergangenheit stark ausgebaut. Die direkte Demokratie in der Schweiz bremste hier ein Überborden des Sozialstaats. Der Vorteil des Bremsens ist jetzt aber zum Nachteil geworden. Während die Regierungen im Norden nämlich schon längst das Rentensystem dem demographischen Wandel angepasst haben, bremst bei uns das Volk. Es will die einmal gewonnenen Privilegien nicht mehr hergeben.

In Ihrem neuen Buch schreiben Sie, dass sich ausgerechnet in der konsensorientierten Schweizer Politik heute Europas polarisiertestes Parteiensystem herausgebildet habe. Wie kam das?
Der Widerspruch ist nur auf den ersten Blick ein solcher. Unser System zeichnet sich durch eine extreme Machtteilung aus: sieben gleichberechtigte Bundesräte, zwei gleichberechtigte Parlamentskammern und eine Aufgabenteilung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden und dann noch das Volk. Die Machtteilung verhindert Machtmissbrauch, führt aber auch dazu, dass kaum einer wirklich Verantwortung trägt.

Was bedeutet das?
Gerade der Wettbewerb im bürgerlichen Lager, den die SVP angefacht hat, hat dazu geführt, dass alle Parteien dieses «Verantwortungsdefizit» ausnutzen. Sie können sich profilieren und müssen nicht an Lösungen arbeiten. Wer eine Initiative gewinnt, muss sie ja nicht selbst umsetzen. Wer im Bundesrat sitzt, kann zugleich opponieren. So wird das Erarbeiten von Lösungen immer schwieriger.

Dann ist das Festhalten von FDP und SVP am Rentenalter 67 auch bloss eine Folge solcher Selbst­profilierung?
Es zeigt zumindest, dass ihnen das Beharren auf der eigenen Linie wichtiger ist als die Chancen in einer Volksabstimmung.

Was passiert, wenn die Vorlage wirklich so an die Urne kommt?
Dann wird es keine Mehrheit geben. Weil alles zu einem Paket verschnürt ist, wirft dies dann die ganze Rentenreform um Jahre zurück. Nun sind bereits 21 Jahre seit der letzten Reform verstrichen. Das wäre dann allmählich eine ernsthafte Reformblockade.

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