Pestizide überall – Experte fordert Umdenken
«Pflästerlipolitik bringt uns nicht weiter»

Die Bevölkerung sorge sich zu Recht um die Qualität des Trinkwassers, sagt Forscher Lucius Tamm. Und: Die Schweiz drohe beim Bio-Landbau den Anschluss zu verlieren.
Publiziert: 09.05.2021 um 09:54 Uhr
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Aktualisiert: 09.05.2021 um 09:56 Uhr
Camilla Alabor

SonntagsBlick: Herr Tamm, der verbreitete Einsatz von Pestiziden macht der Bevölkerung Sorgen. Zu Recht?
Lucius Tamm: Ja. Die intensive Landwirtschaft schädigt die Umwelt. Bei gewissen Vogelarten geht der Bestand drastisch zurück, wir stellen ein Insektensterben fest, in Bächen leiden Fische und Algen. Die intensive Landwirtschaft trägt dazu wesentlich bei. Wohlgemerkt: Ich spreche hier von den Auswirkungen künstlicher synthetischer Pestizide. Diese werden oftmals nur langsam abgebaut und finden sich überall in der Natur wieder, nicht nur auf den Feldern.

Wie gefährlich sind Pestizide im Trinkwasser?
Nach heutigem Wissenstand ist das Trinkwasser für den Menschen nicht giftig. Aber: Wir wissen noch viel zu wenig darüber, welche Auswirkungen die sogenannten Pestizid-Cocktails – der Mix aus Wirkstoffen – auf die Menschen haben.

Pestizid-Cocktails sind gefährlicher als einzelne Pestizide an sich?
Ja, darauf deuten neuere Studien hin. Offenbar besteht ein Zusammenhang zwischen den chronischen Mehrfachrückständen von Pestiziden und dem Rückgang der Fruchtbarkeit bei Männern.

Gleich zwei Initiativen wollen den Einsatz von Pestiziden auf Schweizer Feldern reduzieren.
Foto: keystone-sda.ch
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Pestizidbefürworter argumentieren, das Problem werde völlig aufgeblasen: Um eine Menge zu erreichen, die dem Menschen schaden könnte, müsste eine Person mehrere Badewannen voll Wasser trinken – pro Tag!
Das Argument, Pestizide seien ungefährlich, haben wir 50 Jahre lang gehört. Es wurde in unzähligen Fällen widerlegt. Zum Beispiel beim Insektizid DDT. Dessen Einsatz führte unter anderem dazu, dass die Eierschalen von brütenden Vögeln zu dünn wurden und kaputtgingen – die vermutete Ungefährlichkeit war eine komplette Fehleinschätzung. Dasselbe sehen wir derzeit bei jenen Pestiziden, die auf Neonicotinoiden basieren und zum Bienensterben beitragen. Selbst wenn Pestizide für den Menschen ungefährlich sein sollten – für die Natur sind sie es nicht.

Die Bauern fühlen sich durch die aktuelle Debatte zu Unrecht an den Pranger gestellt. Sie haben viel unternommen, um den Pestizid-Einsatz zu reduzieren.
Keine Frage, die Landwirte und Landwirtinnen haben viel Arbeit und Know-how investiert. Die Frage ist, ob es reichen wird, um die Probleme zu lösen.

Sie sagen: Es reicht nicht.
Auf dem jetzigen Stand leider nicht. In Europa hat man längst begriffen, dass Pflästerlipolitik uns nicht weiterbringt.

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Sie sprechen den Green Deal der EU an: Bis 2030 sollen 25 Prozent der Ackerfläche der Mitgliedstaaten bio sein. Auch den Pestizideinsatz will die EU bis dann um die Hälfte reduzieren. Gerät die Schweiz ins Hintertreffen?
Im Moment sind wir daran, die tief hängenden Früchte zu pflücken: jene Massnahmen, die einfach umzusetzen sind. Doch was wir brauchen, ist eine grundlegende Veränderung der Landwirtschaft.

Lässt sich die wachsende Weltbevölkerung denn überhaupt ernähren ohne den Einsatz von Dünger und Pestiziden?
Mit der Landwirtschaft, wie sie weltweit heute betrieben wird, gehen die Böden in einem beängstigenden Tempo kaputt. Und wenn die Biodiversität weiter in jenem Masse zurückgeht wie in den vergangenen Jahren, wird das disruptive Folgen haben. Zum Beispiel, wenn die Insekten die Pflanzen nicht mehr bestäuben können. Ein Weiter wie bisher ist keine Option.

Aber lässt sich der Welthunger mit Biolandbau wirklich stillen?
Angesichts unserer Konsumgewohnheiten kann keine der heutigen Anbauformen den Welthunger stillen und gleichzeitig die Umwelt schonen. Um das Problem zu lösen, müssen wir den Foodwaste reduzieren. Und Pflanzenkalorien essen statt verfüttern.

Was meinen Sie damit?
Heute verbrauchen wir weltweit viel Ackerfläche, um Futtermittel für Tiere anzupflanzen. Sinnvoller wäre, dort Lebensmittel für Menschen anzubauen.

Weniger Futtermittel für Tiere heisst: tiefere Tierbestände. Ausgedeutscht: Wir müssten weniger Fleisch essen.
Ich sage nicht, dass wir alle zu Vegetariern werden müssen. Gerade in der Schweiz gibt es grosse Flächen, auf denen man kein Weizen oder Gemüse anpflanzen kann. Dort macht es Sinn, Kühe weiden zu lassen. Aber unser derzeitiger Fleischkonsum ist nicht nachhaltig.

Trotzdem essen die Schweizer im Durchschnitt ein Kilo Fleisch pro Woche.
Mein Eindruck ist: Bei der jungen Generation ist die Gewohnheit, jeden Tag Fleisch zu essen, weniger verbreitet. Dann gibt es auch die Möglichkeit, Anreize zu setzen. Kommt hinzu, dass beim Fleisch – und der konventionellen Landwirtschaft an sich – die Kostenwahrheit fehlt.

Sie meinen, konventionelle Lebensmittel sind im Vergleich zu Biolebensmitteln zu günstig?
Die negativen Folgen der konventionellen Produktionsweise sind im Verkaufspreis nicht enthalten. Doch wenn wir die Umwelt schädigen oder unser Trinkwasser aufbereiten müssen, kostet uns das ebenfalls.

Der frühere Fibl-Direktor Urs Niggli hat einmal gesagt: Eigentlich müsste ein Schnitzel zehn Franken kosten, ein Salat 50 Rappen.
Wenn man die wahren Kosten rechnen würde, dann würde das wohl zutreffen.

Eine Bevormundung der Konsumenten.
Wir werden in unzähligen Bereichen motiviert, uns vernünftig zu verhalten. Zum Beispiel beim Rauchen. In rund 40 Ländern wurden auch schon Steuern auf Zucker eingeführt, um den Konsum zu verringern.

Zurück zur Politik: Die Trinkwasser-Initiative fordert, dass Bauern nur noch Direktzahlungen erhalten, wenn sie auf Pestizide verzichten. Ein sinnvoller Weg?
Es ist ein Ansatz, der in seiner Einfachheit bestechend, in der Umsetzung aber sehr anspruchsvoll ist. Wenn ein Teil der Bäuerinnen und Bauern auf Direktzahlungen verzichtet und dafür keine ökologischen Auf- lagen mehr einhält, wäre das nicht ideal.

Was sagen Sie zur Pestizid-Initiative, die den Einsatz von synthetischen Pestiziden verbietet?
Biobauern zeigen jeden Tag, dass eine Landwirtschaft ohne solche Mittel möglich ist. Doch auch im Biolandbau steckt noch sehr viel Entwicklungspotenzial. In zehn Jahren wird Bio ganz anders aussehen als heute.

Persönlich

Lucius Tamm (58) ist seit 2020 Direktor für Kooperationen am Forschungsinstitut für biologischen Landbau (Fibl) in Frick AG. Der ausgebildete Agronom ist seit 27 Jahren am Fibl tätig und forscht zu alternativen Pflanzenschutzmitteln im Biolandbau. Das Fibl gilt als eine der führenden Forschungsanstalten zur biologischen Landwirtschaft und verfügt über weitere Standorte in Deutschland, Österreich, Frankreich, Ungarn und Belgien.

Lucius Tamm (58) ist seit 2020 Direktor für Kooperationen am Forschungsinstitut für biologischen Landbau (Fibl) in Frick AG. Der ausgebildete Agronom ist seit 27 Jahren am Fibl tätig und forscht zu alternativen Pflanzenschutzmitteln im Biolandbau. Das Fibl gilt als eine der führenden Forschungsanstalten zur biologischen Landwirtschaft und verfügt über weitere Standorte in Deutschland, Österreich, Frankreich, Ungarn und Belgien.

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