Zwist um Armut in der Schweiz
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Wie viele sind betroffen?Zwist um Armut in der Schweiz

Parlament will, dass der Bundesrat genauer hinschaut
Zwist um Armut in der Schweiz

Auch in der Schweiz ist Armut ein Problem – das hat die Corona-Krise gezeigt. Oder? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Der Bund soll nun Licht ins Dunkle bringen – doch die Regierung sträubt sich dagegen.
Publiziert: 01.06.2020 um 11:29 Uhr
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Aktualisiert: 04.07.2020 um 10:40 Uhr
Lea Hartmann

Stundenlang anstehen für ein eine Packung Teigwaren, frisches Gemüse, ein paar Guetzli: Tausende Hilfsbedürftige sind an den vergangenen Wochenenden zum Eishockeystadion in Genf gekommen, um kostenlos einen Sack Lebensmittel zu erhalten. Die mehrere kilometerlange Schlange machte ein Problem sichtbar, das in der wohlhabenden Schweiz sonst oft übersehen wird: die Armut.

Jede zwölfte Person, die in der Schweiz lebt, ist arm. 675'000 Menschen – Tendenz steigend. Das sagt jedenfalls der Bund. Doch stimmt diese Zahl wirklich? Bei der FDP heisst es: Gut möglich, dass es weniger sind. Die Linken glauben: Wahrscheinlich sind es viel mehr.

Worin sich beide einig sind: Heute weiss man es nicht so genau. Das hielt vor zwei Jahren auch ein Bericht des Nationalen Programms gegen Armut fest – ein fünfjähriges Projekt des Bundes, um Massnahmen gegen Armut besser zu koordinieren und sie damit effektiver zu bekämpfen. 9 Millionen Franken steckte der Bund in das Programm.

Mehrere Tausend Menschen standen an den vergangenen Wochenenden in Genf teilweise stundenlang an, um kostenlose Lebensmittel zu erhalten.
Foto: Keystone
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Armut genauer unter die Lupe nehmen

Das Parlament will darum jetzt handeln. Alle Parteien ausser der SVP unterstützen einen Vorstoss, der ein umfassendes Armutsmonitoring in der Schweiz fordert. Alle fünf Jahre soll der Bund einen Bericht abliefern müssen, der zeigt, wie wirksam die Massnahmen zur Armutsbekämpfung sind, und die Situation in den Kantonen untereinander vergleicht.

Es geht nicht nur um die Frage, wie viele Personen überhaupt arm sind. Sondern auch: Welche Personen sind besonders gefährdet und warum? Haben sich die Risikogruppen in den vergangenen Jahren verändert? Und wie kommt man wieder aus der Armut heraus?

Der Vorstoss kommt nicht etwa von links. Zwar hat 2018 schon die Aargauer SP-Nationalrätin Yvonne Feri (53) ein solches Armutsmonitoring gefordert. Nun hat sie aber gewichtige Unterstützung bekommen. Die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Ständerats stellt die gleiche Forderung. Federführend war FDP-Ständerat Ruedi Noser (58); ausser der SVP stehen sämtliche Parteien dahinter. Am Dienstag entscheidet der Nationalrat. Auch hier dürfte es ein sehr deutliches Ja geben.

Bundesrat findets unnötig

Damit setzt sich das Parlament gegen den Bundesrat durch. Dieser ist dagegen, die Armutssituation in der Schweiz genauer unter die Lupe zu nehmen. Obwohl er Millionen ausgab für ein Programm, mit dem sogar schon ein Konzept für das Monitoring ausgearbeitet worden ist. Aus Sicht des Bundesrats ist ein gesamtschweizerisches Armutsmonitoring zu teuer. Statt für viel Geld Studien machen zu lassen, will er das Geld lieber in die Umsetzung konkreter Massnahmen stecken.

Gleich sieht es die SVP. «Ausser mehr administrativen Aufwand bringt ein Monitoring nichts», sagt der Zürcher SVP-Nationalrat Martin Haab (57). «Es ist viel gescheiter, das Geld für konkrete Massnahmen einzusetzen.»

Herausfinden, was nützt

Das stellt FDP-Ständerat Noser in Frage. «Schlussendlich wird die SVP Freude an den Ergebnissen haben», ist er überzeugt. Noser kritisiert, dass der Bund zwar ständig neue Massnahmen beschliesse, aber nie wissenschaftlich untersucht werde, was sie wirklich bringen. So zum Beispiel auch die Überbrückungsleistungen für ausgesteuerte Arbeitslose über 60, um deren Details das Parlament gerade feilscht. Als Ingenieur könne er darüber nur den Kopf schütteln.

Das Hilfswerk Caritas erhofft sich vom Armutsmonitoring derweil vor allem zuverlässigeres Wissen über Armut und ihre Ursachen. Für die Armutsbekämpfung verantwortlich sind die Kantone. Diese würden Armut unterschiedlich messen, sagt Aline Masé (34), Leiterin der Fachstelle Sozialpolitik bei der Caritas Schweiz. «Zudem gibt es in etwa der Hälfte der Kantone gar keine Analysen zur Armutssituation.»

Viele Kantone wüssten also nicht, wie viele ihrer Einwohnerinnen und Einwohner armutsbetroffen sind und welche Ressourcen – materielle und nicht materielle – ihnen fehlen, führt Masé aus. «Und wenn wir nicht wissen, wie viele Menschen überhaupt arm sind und weshalb: Wie sollen wir dann die Armut wirkungsvoll bekämpfen können?»

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