Ökonomin warnt
«Ändern wir nichts, droht eine neue Pandemie»

Die Corona-Krise enthüllt die Probleme unseres Wirtschaftssystems. Das sagt Judith Walls, Professorin für Nachhaltigkeits­management an der Uni St. Gallen.
Publiziert: 02.05.2020 um 23:44 Uhr
|
Aktualisiert: 04.05.2020 um 14:11 Uhr
Interview: Camilla Alabor

Frau Walls, Sie sagen: Zwischen Klimawandel, dem Verlust von Biodiversität und der Corona-Pandemie besteht ein Zusammenhang. Welcher?
Judith Walls: Wir sehen, dass ­immer häufiger Krankheiten von Tieren auf Menschen übertragen werden. Das Problem liegt darin, dass wir ihren natürlichen Lebens­raum zerstören: Wir holzen ­Regenwälder ab, pflanzen Monokulturen an, bauen Strassen in entlegene Gebiete. Als Resultat davon kommen mehr Wildtiere mit Menschen in Kontakt. Womit auch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Viren von Tieren auf Menschen überspringen.

Bereits Krankheiten wie die ­Masern oder die Spanische Grippe wurden von Tieren auf Menschen übertragen. Das ist nichts Neues.
Richtig. Neu ist die Häufigkeit, mit der solche Krankheiten in den ­letzten Jahrzehnten auftauchten: Rinderwahnsinn, Sars, Vogelgrippe, Schweinegrippe, Ebola und so weiter. Wobei die Massentierhaltung auch eine wichtige Rolle spielt.

Inwiefern?
Die Schweine- und die Vogelgrippe ­haben sich über Tierfabriken ­rasant verbreitet. Natürlich spielt auch die Globalisierung hinein. Durch die weltweiten Warenströme und unsere Reisetätigkeit verbreiten sich neue Krankheiten in Windeseile.

Zwischen der Coronakrise, dem Klimawandel und dem Artensterben besteht ein Zusammenhang, sagt Professorin Judith Walls.
Foto: Siggi Bucher
1/12

Und welches ist die Verbindung zum Klimawandel?
Die wärmeren Temperaturen tragen das Ihre dazu bei, dass mehr Mücken in unseren Breitengraden überleben und Krankheiten leichter übertragen werden können. Und natürlich wirkt sich die Klimakrise auf das Ökosystem aus.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Wenn wir unser Wirtschaftssystem nicht ändern, droht eine neue Pandemie. Das gilt in Bezug auf die ­Massentierhaltung, aber auch in Bezug auf die Landwirtschaft an sich. Selbst wenn wir morgen alle zu Vegetariern würden, wäre ­damit nur ein Teil der Probleme gelöst. Die gesamte Landwirtschaft tut sich schwer mit Nachhaltigkeit. Denn die Monokulturen, die in vielen Ländern dominieren, schwächen das Ökosystem ebenfalls.

Klingt alles nicht sehr hoffnungs­voll. Welche Lösung sehen Sie?
Auf politischer Ebene bräuchte es in Europa ein System, das jene Landwirte unterstützt, die sich für mehr Biodiversität einsetzen. Als Konsumenten können wir selber einen Beitrag leisten, umweltfreundliche Initiativen zu fördern. So gibt es in Latein­amerika Kaffeebauern, die ihren Kaffee im Regenwald anbauen, statt den Wald zu roden.

Wenn Sie sagen, das Problem sei unser Wirtschaftssystem: Braucht es nicht Lösungen, die an diesem Punkt ansetzen?
Doch, absolut. Und die gibt es auch schon.

Welche denn?
Wir wissen seit den 1960er-­Jahren, dass unser lineares ­System nicht nachhaltig ist: Wir besorgen uns Rohstoffe aus der Natur, stellen daraus Produkte her, konsumieren sie – und lassen einen Haufen Müll zurück. Die Antwort auf Ihre Frage lautet deshalb: Wir müssen uns in Richtung Kreislaufwirtschaft be­wegen.

Was heisst das?
Die Idee der Kreislaufwirtschaft ist an die Natur angelehnt: Es ist ein System, das nur Abfall produziert, der wiederverwertet werden kann. Und in dem der Natur nur so viele ­Ressourcen entnommen werden, dass sie sich wieder regenerieren kann.

Klingt schön, aber wie lässt sich das realisieren?
Natürlich können nicht alle Branchen von heute auf morgen auf Kreislaufwirtschaft umstellen. Und bei manchen, wie der Erdölbranche, ist es wohl unmöglich. Aber in Dänemark gibt es in der Stadt Kalundborg ein spannendes Projekt: Die dortigen Firmen ­nutzen den Abfall, den jeweils ­andere Firmen vor Ort produzieren, als Rohstoff für ihre Produkte. So stellt ein Unternehmen ­riesige Mengen von Insulin her und produziert als Beiprodukt Brandhefe. Ein anderes Unternehmen stellt daraus Biogas und Dünger her. Auch die Nebenprodukte des regionalen Kohlekraftwerks werden von lokalen Firmen wiederverwertet: Die Schlacke kommt im Strassenbau zum Einsatz, das Kalziumsulfat bei der Herstellung von Gipskarton.

Das tönt nach einem Nischenprojekt. Die Frage ist doch: ­Lässt sich so was in grösserem Massstab realisieren?
Ähnliche Projekte existieren ­anderswo, etwa in Grossbritan­nien. Auch in der Schweiz gibt es in Daval VS einen Öko-Industriepark, auf dem 70 Unternehmen angesiedelt sind. Ich glaube: Auf regionaler Ebene sind solche Kreislaufsysteme durchaus möglich.

Das Coronavirus hat die ­Debatte um die Umweltpro­bleme allerdings in den Hintergrund gerückt. Die Prognose sei gewagt: Der Fokus wird in nächster Zeit auf den wirtschaftlichen Problemen liegen – nicht auf dem Klimawandel.
Falls das passiert, haben wir nichts aus der Corona-Krise gelernt. Wenn wir weitermachen wie vor der Krise, ist das kontraproduktiv. Ja, dann richten wir sogar zusätzlichen Schaden an. Nur auf Wachstum zu fokus­sieren, reicht nicht. Zur Nach­haltigkeit gehören neben dem wirtschaftlichen auch der ­soziale und der umweltpolitische Aspekt. Kommt hinzu: Die Corona-Pandemie hat bewiesen, wie schlecht Staaten auf irgendeine Art von Krise vorbereitet sind. Dabei kommt durch die Klimakrise noch viel mehr auf uns zu.

Wie meinen Sie das?
Bis jetzt sind weltweit rund 240'000 Menschen am Coronavirus gestorben. Die Klimakrise hingegen wird geschätzte 200 Millionen Menschen in die Flucht treiben. Stellen Sie sich mal vor, was das heisst. Und schauen Sie sich an, wie überfordert Europa schon mit einer Million syrischer Kriegsflüchtlinge war. Wir müssen unsere Wirtschaft so aufbauen, dass sie widerstandsfähiger und nachhaltiger ist.

Bitte melde dich für eine Teilnahme an!
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?