Oberster Bevölkerungsschützer Benno Bühlmann schlägt Alarm
Schweizer Schutzanlagen nicht einsatzbereit!

Messie-Museum statt Schutzraum: Die Schweizer Zivilschutzanlagen verlottern. Der oberste Bevölkerungsschützer, Benno Bühlmann, gibt zu, dass die Schweiz für wahrscheinliche Katastrophen nicht bereit ist.
Publiziert: 03.10.2018 um 01:47 Uhr
|
Aktualisiert: 23.10.2018 um 20:37 Uhr
Bei einem Unglück fehlt es an Einsatzkräften
2:47
Bundesamt für Bevölkerungsschutz:Bei einem Unglück fehlt es an Einsatzkräften
Andrea Willimann

Gut, sehen die ausländischen Nachbarn nicht in die 2000 Bevölkerungsschutz-Anlagen, für die sie die Schweiz immer so bewundern. Denn viele der scheinbar voll ausgerüsteten, atomsicheren Bunker für Zivilschützer sind gar nicht mehr funktionsfähig.

Brisant: Dazu gehören die rund 350 geschützten Sanitätsposten und Spitäler! Ihre Ausrüstung entspricht nicht mehr den heutigen Anforderungen. Zudem fehlt seit der letzten grossen Reform des Bevölkerungsschutzes 2002 ausser in drei Kantonen überall das medizinische und Pflegepersonal für den Betrieb.

Der Direktor des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz (Babs), der Urner Benno Bühlmann (58), redet im Gespräch mit BLICK nichts schön. Die Zivilschutz-Einrichtungen müssten bei einem Erdbeben oder einer Pandemie erst instand gestellt werden, und es brauche wieder einen Sanitätsdienst.

BLICK: Herr Bühlmann, liegen bei einem grossen Katastrophenfall unsere Verletzten in improvisierten Feldlazaretten?
Benno Bühlmann: Im Falle einer grossen, nationalen Katastrophe oder Notlage – etwa bei einem schweren Erdbeben oder bei einer Seuche – haben wir in diesem Bereich tatsächlich eine Sicherheitslücke. Die geschützten Sanitätsposten und Spitäler sind zurzeit nicht einsatzbereit. Wir müssten uns mit Provisorien behelfen.

Wie kam es zu diesem Verfall?
Die Bedrohungslage hat sich verändert. 2002 hat beispielsweise niemand an ein Revival von Chemiewaffen geglaubt. Zudem verliess man sich darauf, dass die Armee und das Gesundheitswesen viele Leistungen erbringen. Doch in der Zwischenzeit ist auch die Armee kleiner geworden und fokussiert stärker auf ihre Kernaufgaben. So musste sie die Unterstützung zugunsten der zivilen Bevölkerung im Medizinal-Bereich reduzieren. Die privaten Spitäler stehen unter wirtschaftlichem Druck. Ohne entsprechende Abgeltung können sie nicht Betten für eine grosse Katastrophe gleichsam auf Vorrat bereit halten.

Das Ausland bewundert die Schweiz für ihre Schutzanlagen – stabiler Beton, tief unter der Erde, perfekt eingerichtet.
Foto: STEFAN BOHRER
1/13

Aber ein schweres Erdbeben zum Beispiel ist doch ein permanentes Szenario und hat nichts mit Krieg zu tun?
Wir haben keinen Andreasgraben wie in Kalifornien, Erdbeben der Stufe 9 sind bei uns nicht zu erwarten. Aber wir müssen mit Erdbeben in der Grössenordnung 6,7 und mehr rechnen wie zum Beispiel in Italien. Wenn es wieder wackelt, wie 1356 in Basel, dann ist mit bis zu 50'000 Verletzten zu rechnen und einer Schadenshöhe von 100 Milliarden Franken.

Was passiert dann?
Wir versuchen, das zu machen, was möglich ist.

Das heisst konkret?
Zuerst muss man sich immer ein möglichst genaues Lagebild verschaffen und feststellen, welche Infrastrukturen noch zur Verfügung stehen. Gestützt darauf heisst es dann: Improvisieren und priorisieren, auch internationale Hilfe holen. In jedem Fall müssten wir den in der normalen Lage gewohnten Standard verringern.

Wäre es nicht ehrlicher zu sagen, dass die Schweiz für einen solchen Fall nicht bereit ist?
Es gibt Ereignisse, für die die Schweiz nicht parat ist. Allerdings gilt dies auch für andere Länder. Im internationalen Vergleich ist der Schweizer Bevölkerungsschutz auf einem guten Stand.

Wie sieht es mit dem Rest der Anlagen aus? Kommandoposten, Bereitstellungsanlagen: Wie viele sind davon in einem schlechten Zustand?
Hier ist die Situation weit besser. Die meisten sind betriebsbereit oder können rasch funktionsfähig gemacht werden. Ihre technische und kommunikative Ausrüstung ist in einem guten Zustand.

Nennen Sie bitte Zahlen. Wie viele Prozent sind brauchbar?
Darüber verschaffen wir uns momentan gemeinsam mit den Kantonen einen genauen Überblick. Wir schauen, was in den Kantonen einsatzbereit ist und für den mittel- und langfristigen Bedarf, auch über Kantonsgrenzen hinweg, einsatzbereit sein soll. Im Blick darauf aktualisieren die Kantone aktuell ihre Bedarfsplanungen.

BLICK darf die regionale Zivilschutzanlage in Köniz BE zeigen. Moder und Schimmel gibt es dort nicht zu sehen. Aber Gerätschaften, die ins Museum gehören. Schweizerischer Durchschnitt, versichert Babs-Sprecher Kurt Münger (54) vor dem grossen Gittertor, das zum Kommandoposten und zur Bereitstellungsanlage führt.

Die Anlage hat Baujahr 1982. Seither hängen in der Desinfektionsanlage der dicke orange Plastikvorhang und der Brausekopf. Schlimmer ist jedoch der Gestank: Der Diesel-Generator der Bunker-eigenen Stromanlage im benachbarten Maschinenraum ist grad in Revision und leckt.

Drei Gänge weiter riecht es nur noch nach Keller. Türen geben Blicke frei in Schlafräume, Waschräume, WC-Anlagen. Grau-grüner Bunker-Groove. Farbtupfer sind die Kissenanzüge in den nach Geschlechtern getrennten Schlafräumen. Im Nachrichtenraum steht eine Batterie alter Telefonmodelle mit grossen, schweren Hörern: Requisiten für einen Geheimdienstfilm aus dem Kalten Krieg.

Die neue Alarmierungs-App kommt diesen Herbst

Die neue Alarmierungs-App «Alertswiss», welche die traditionellen Systeme – Sirenen und Radio – ergänzen soll, ist schon lange angekündigt. Doch noch diesen Herbst soll es endlich so weit sein. 

Die neue App gibt den Kantonen die Möglichkeit, bei Katastrophen lokal oder regional zu alarmieren. «Zudem erreichen wir damit auch den Teil der Leute, der gar nicht mehr weiss, wie er bei einem Alarm reagieren muss», sagt Babs-Direktor Benno Bühlmann.

Der Urner erklärt es an einem Beispiel aus seinem Heimatkanton: «Die Göschener wissen, dass ihr Kirchenturm innerhalb von fünf Minuten 30 Meter unter Wasser sein kann, wenn der Staudamm bricht. Aber welcher Zürcher reagiert auf Anhieb richtig, wenn die Sirene heult, weil der Sihlsee-Staudamm gebrochen und Zürich nach zwei Stunden überflutet ist?

Telefonbücher, wo die Bevölkerung das nachschauen könnte, gibt es nicht mehr. «Aber mit einer App kann heute der grosse Teil der Bevölkerung etwas anfangen», ist Bühlmann überzeugt. Andrea Willimann

Die neue Alarmierungs-App «Alertswiss», welche die traditionellen Systeme – Sirenen und Radio – ergänzen soll, ist schon lange angekündigt. Doch noch diesen Herbst soll es endlich so weit sein. 

Die neue App gibt den Kantonen die Möglichkeit, bei Katastrophen lokal oder regional zu alarmieren. «Zudem erreichen wir damit auch den Teil der Leute, der gar nicht mehr weiss, wie er bei einem Alarm reagieren muss», sagt Babs-Direktor Benno Bühlmann.

Der Urner erklärt es an einem Beispiel aus seinem Heimatkanton: «Die Göschener wissen, dass ihr Kirchenturm innerhalb von fünf Minuten 30 Meter unter Wasser sein kann, wenn der Staudamm bricht. Aber welcher Zürcher reagiert auf Anhieb richtig, wenn die Sirene heult, weil der Sihlsee-Staudamm gebrochen und Zürich nach zwei Stunden überflutet ist?

Telefonbücher, wo die Bevölkerung das nachschauen könnte, gibt es nicht mehr. «Aber mit einer App kann heute der grosse Teil der Bevölkerung etwas anfangen», ist Bühlmann überzeugt. Andrea Willimann

Mehr

Die Anlage besitzt auch einen Sanitätsposten. Auf der Webseite der Gemeinde Köniz heisst es dazu, der Zivilschutz Region Köniz erbringe im Ernstfall die «Betreuung von schutzsuchenden und obdachlosen Personen» und die «Durchführung schwerer Rettung».

Schwer vorstellbar unten im Keller. Im Behandlungsraum und in den zwei kleinen Pflegeräumen stapeln sich die Materialschachteln. Neue Bekleidung für die Zivilschützer und diverses Material begraben weisse doppelstöckige Metallbetten für zwei oder vier Personen. Schmale Plastikmatratzen, Gummikissen. Daneben medizinische Gerätschaften, die zum Rätseln einladen: Waschbecken? Desinfektionsgerät? 

Die Notspitäler befinden sich häufig unter zivilen Spitälern. Gilt die Theorie nicht mehr, dass man den Betrieb einfach von oben nach unten zügeln kann?
Früher stand das so im Lehrbuch. Nur im Spital unten könnte ein Chirurg heute nicht mehr operieren, und das medizinische Personal könnte die veraltete Medizinal-Ausrüstung nicht gebrauchen.

Stünden im Notfall wenigstens Armee-Spitäler bereit?
Wir wären bestimmt auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen. Und auch die Armee würde unterstützen. Ihre Mittel sind aber begrenzt: Nach der Weiterentwicklung der Armee gibt es noch ein Militärspital in Einsiedeln sowie sieben Spitäler, die dem koordinierten Sanitätsdienst angehören. In diesen sorgt die Armee für die Ausrüstung und allenfalls den Betrieb. Für zivile Bedürfnisse kann die Armee damit circa 800 Betten zur Verfügung stellen.

Köniz hat 42'220 Einwohner, Stand Ende 2017. Für Verletzte in der Zivilschutz-Anlage kommt im Notfall das abgekochte Wasser aus der Küche. Diese sieht aus wie in jedem Schweizer Pfadiheim. In den Schränken liegen je 120 Suppenteller, Tassen, Esslöffel, Gabeln. Immerhin: Das aufliegende Kochrezeptbuch der Schweizer Armee verspricht Feines auf den Tischen im Aufenthaltsraum. 

Der Kommandoraum macht in Köniz einen modernen Eindruck. Beamer an der Decke, Hellraum-Projektor, normale Sitzungszimmer-Einrichtung. «Don't touch me» – die Serveranlage soll nicht berührt werden. Hier besprechen sich die Verantwortlichen, «wer bei lange andauernden und schweren Ereignissen die Durchhaltefähigkeit gewährleistet und die anderen Organisationen langfristig unterstützt, verstärkt und entlastet».

Herr Bühlmann, schaut der Bundesrat einfach zu, bis alles verlottert?
Nein. Er hat uns beauftragt, den Zivilschutz und das Gesamtsystem Bevölkerungsschutz weiterzuentwickeln. Wir sind daran, die gesetzlichen Grundlagen anzupassen. Der Entwurf zur Totalrevision des Bundesgesetzes über den Bevölkerungs- und Zivilschutz wird dem Bundesrat noch dieses Jahr vorgelegt.

Und wie gehen Sie vor?
Wir aktualisieren den Risikobericht. Die Kantone machen die erwähnte Bedarfsplanung für Schutzanlagen. Wir planen, dass die Kommunikationssysteme auch unabhängig vom normalen Stromnetz funktionieren und bereiten ein sichereres Daten-Verbundsystem sowie ein Lageverbundsystem vor. Wir entwickeln die gesetzlichen Aufgaben der Zivilschützer weiter. Wie angesprochen, prüfen wir insbesondere wieder einen Sanitätsdienst im Zivilschutz einzuführen. Zudem wollen wir dafür sorgen, dass der Zivilschutz im Notfall schneller im Einsatz ist. Wir verbessern die Ausbildung und planen ein Durchdiener-Modell. Auch die interkantonale Zusammenarbeit wollen wir weiter verbessern.

Und was sagt Finanzminister Ueli Maurer, wenn er Ihre Aufgabenliste sieht? Was kostet das alles?
Insbesondere für die Kommunikationssysteme entsteht Mehraufwand. Für die Finanzierung ist im neuen Gesetz ein Verteilungsschlüssel vorgesehen. Auch die Kantone müssen mit gewissen Zusatzkosten rechnen. Es gilt halt auch im Bevölkerungsschutz: Sicherheit hat ihren Preis, es gibt sie nicht zum Nulltarif.

Die Rekrutierungszahlen brechen ein

Wie der Armee fehlt auch dem Bevölkerungsschutz das Personal. Noch gilt ein Planbestand von 72'000 Zivilschützern. Manche Kantone haben genügend Leute, andere nicht. Das neue Gesetz über den Bevölkerungs- und Zivilschutz soll daher Einteilungen über die Kantonsgrenze ermöglichen und so die gängige Praxis der gegenseitigen Hilfe legalisieren.

Viel mehr Sorgen bereiten dem Bund aber die 6000 pro Jahr nötigen Neuzugänge. Dies, obwohl eigentlich alle Schweizer Männer schutzdienstpflichtig sind, wenn sie dafür tauglich sind und nicht Militär- oder Zivildienst leisten. «2017 brachen die Rekrutierungszahlen auf 4800 ein, und ein Zwischenstand fürs laufende Jahr zeigt ebenfalls nach unten», sagt Babs-Direktor Benno Bühlmann. 

Die kantonalen Militär- und Sicherheitsdirektoren fordern bereits die Fusion von Zivilschutz und Zivildienst. Bühlmann verweist auf laufende Abklärungen zum effektiven Bedarf. «Wenn die Ergebnisse vorliegen, bin ich dafür, dass man sich auch anhand alternativer Modelle überlegt, wie Lücken gefüllt und das bestehende System verbessert werden kann.» (awi)

Wie der Armee fehlt auch dem Bevölkerungsschutz das Personal. Noch gilt ein Planbestand von 72'000 Zivilschützern. Manche Kantone haben genügend Leute, andere nicht. Das neue Gesetz über den Bevölkerungs- und Zivilschutz soll daher Einteilungen über die Kantonsgrenze ermöglichen und so die gängige Praxis der gegenseitigen Hilfe legalisieren.

Viel mehr Sorgen bereiten dem Bund aber die 6000 pro Jahr nötigen Neuzugänge. Dies, obwohl eigentlich alle Schweizer Männer schutzdienstpflichtig sind, wenn sie dafür tauglich sind und nicht Militär- oder Zivildienst leisten. «2017 brachen die Rekrutierungszahlen auf 4800 ein, und ein Zwischenstand fürs laufende Jahr zeigt ebenfalls nach unten», sagt Babs-Direktor Benno Bühlmann. 

Die kantonalen Militär- und Sicherheitsdirektoren fordern bereits die Fusion von Zivilschutz und Zivildienst. Bühlmann verweist auf laufende Abklärungen zum effektiven Bedarf. «Wenn die Ergebnisse vorliegen, bin ich dafür, dass man sich auch anhand alternativer Modelle überlegt, wie Lücken gefüllt und das bestehende System verbessert werden kann.» (awi)

Mehr
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?