Militärhistoriker Daniel Segesser sieht Aufrüstung der Schweiz skeptisch
«Unsere paar Kampfjets wären nicht in der Lage, den Luftraum zu schützen»

Militärhistoriker Daniel Segesser ist nicht überrascht vom Krieg in der Ukraine. Global gesehen, sei ein Krieg immer präsent. Dazu genüge eine Blick nach Syrien. Trotz der Bedrohungen sieht Segesser einer Aufrüstung aber skeptisch entgegen.
Publiziert: 14.03.2022 um 00:44 Uhr
Silvia Tschui

Blick: Während des Kalten Kriegs hat die Schweiz unter anderem auf Notvorräte und Bunker gesetzt. Sollte sie dies angesichts Putins Drohungen wieder tun?
Daniel Segesser: Nun, es besteht wie vor zwei Jahren kein Grund, Toilettenpapier zu hamstern. Es schadet aber nie, ein, zwei Packungen Hörnli zu Hause zu haben, um nicht jeden Tag einkaufen zu müssen – aber unsere Versorgungslage ist stabil und gut.

Und die Bunker?
Das ist nicht mein Fachgebiet, sondern das meiner Kollegin Silvia Berger Ziauddin. Kurz gesagt: Einzig im Fall eines nuklearen Zwischenfalls in einem Kernkraftwerk könnten sie vielleicht der Bevölkerung in unmittelbarer Nähe kurzfristig einen höheren Schutz bieten.

Sind Sie persönlich geschockt vom Krieg in der Ukraine?
Als Historiker des Militärischen bin ich wohl weniger überrascht als der Rest der Bevölkerung.

Schon während des Kalten Krieges empfahl die Schweiz den Bürgern, einen Notvorrat anzulegen. Heute sei die Versorgungslage aber stabil, sagt der Militärhistoriker Daniel Segesser.
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Weshalb nicht?
Global gesehen ist Krieg immer präsent: Ein Blick nach Syrien genügt. Der Jugoslawien-Krieg ist erst knapp 30 Jahre her, der Tschetschenien-Krieg ist uns kaum noch im Bewusstsein. Dass viele jetzt so überrascht sind, hat auch damit zu tun, dass wir hierzulande die Geschichte des Militärischen vielfach verdrängt haben.

Wie kommt das?
Militärisches ist im deutschen Sprachraum mit den Verbrechen der Nazis verknüpft. Lange schob die Gesellschaft diese Verbrechen der Verbrecherorganisation SS in die Schuhe, insbesondere den Holocaust. Aber auch das normale Militär, also die Wehrmacht, beging Kriegsverbrechen. Das wollte die Bevölkerung nicht unbedingt wahrhaben, weshalb es im deutschsprachigen Raum auch wenig akademische Forschung und Lehrstühle zur Geschichte des Militärischen gibt.

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Welche weitere Auswirkungen hat dies?
Entscheidende Fragen werden nicht gestellt. Eine Konsequenz der Weltkriege war, dass Militärs in vielen Ländern – auch in Russland – weitgehend vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen wurden und Zivilisten entscheiden, ob Krieg ausgelöst wird. Die Frage ist, ob das wirklich gut ist.

Sie sagen, dass es sinnvoll wäre, dem Militär mehr Macht einzuräumen? Das klingt brandgefährlich!
Sie haben mich missverstanden. Putin, Bush oder Hitler, die in jüngerer Zeit Kriege ausgelöst haben, waren alle Zivilisten. Militärische Führungspersonen müssten mehr Verantwortung übernehmen können und nicht einfach ausführend und ohne Rückfragen die Befehle einer zivilen Führung umsetzen. Ein General mit Rückgrat müsste – wie Ludwig Beck 1938 – einem Präsidenten deutlich sagen, wenn der Einsatz von militärischen Mitteln keinen Sinn ergibt.

Wie stand die Schweiz historisch gesehen dem Krieg gegenüber?
Der letzte Krieg der Schweiz war der Sonderbundskrieg von 1847. Seither haben unsere Behörden Wert auf humanitäre Politik gelegt. So sucht die Genfer Konvention seit 1864 immer weitere Bereiche im humanitären Völkerrecht zu regeln. Die Schweiz stellte sich auch gerne als Friedensinsel dar. Das hat uns aussenpolitisch stark geprägt.

Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Seit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870–71 hat die Schweiz immer wieder ausländische Soldaten aufgenommen. Im Ersten Weltkrieg hat das Land Verwundete beider Seiten gepflegt. Gleichzeitig suchten die Behörden eine enge Beziehung zum Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), um vom Glanz dessen humanitärer Arbeit profitieren zu können.

Aber die Schweiz profitierte doch auch wirtschaftlich von den Kriegen?
Oh ja! Im Ersten Weltkrieg lieferten einige Industriezweige Kriegsmaterial an die Entente und verhandelten auch mit Deutschland. Die Rolle der Schweizer Banken hinsichtlich des deutschen Raubgoldes ist ja bekannt. Nicht zu vergessen ist auch: Flüchtlinge waren selten willkommen, und im Zweiten Weltkrieg hat die Schweiz vielen Juden die Einreise verweigert.

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Stand die politische Idee der friedensstiftenden Schweiz also ihren wirtschaftlichen Interessen entgegen?
Nein, es wäre falsch, ein Gegensatzpaar «böse» Industrie und «gute» Politik zu konstruieren. Der Hintergrund ist, dass im Auswanderungsland Schweiz bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in Teilen bittere Armut herrschte. Sich aus Kriegen herauszuhalten, war auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit, um die Existenz der Bevölkerung durch Beschäftigung zu sichern. Zudem ist humanitäre Politik, so etwa die Aufnahme von Kriegsverwundeten, auch ein Mittel, diplomatische Beziehungen und so wirtschaftliche Korridore offenzuhalten.

Wie sah es in der Schweiz eigentlich betreffend Propaganda aus?
Das Konzept der «geistigen Landesverteidigung» spielte schon seit der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle, Stichwort «Alpenmythos». Diesen förderten extra zu diesem Zweck geschaffene Institutionen wie die Pro Helvetia mit staatlichen Geldern. Es entstanden Filme wie «Gilberte de Courgenay» oder «Füsilier Wipf», später auch die bekannten Gotthelf-Filme.

Weshalb eigentlich der Alpenmythos?
Das Mittelland wäre gegen eine überlegene Armee nicht zu halten gewesen. Militärisch gesehen bildeten aber die Alpen einen Rückzugsort. Sowohl ideologisch wie militärisch machte eine propagandistische Besinnung auf die Alpen daher Sinn.

Sehen Sie Parallelen zur heutigen Situation in der Ukraine?
Auch die ukrainische Führung um Präsident Wolodimir Selenski scheint sich – ähnlich wie General Guisan in der Schweiz des Zweiten Weltkrieges – nicht auf einen Krieg im flachen Land einlassen zu wollen. Auch Selenski setzt auf eine geschickte Propaganda mit neuen Mitteln. Statt Filme wie in der Schweiz des Zweiten Weltkrieges sind es bei ihm Twitter oder Instagram. Dagegen sehen Putins Staatsmedien alt aus.

Müssten wir jetzt wieder mehr in die Verteidigung investieren?
Das fordern ja gerade einige Parteien. Ich bin da skeptisch. Mit Waffen Frieden schaffen ist ein innerer Widerspruch. Auf der anderen Seite ist es auch falsch, auf eine komplette Demilitarisierung zu setzen. Aber wenn wir ehrlich sind: Unsere paar Kampfflieger wären nicht in der Lage, den Luftraum der Schweiz wirklich zu schützen.

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Was sollte unsere Regierung denn tun?
Die Behörden sollten die Beteiligung der Menschen an politischen Entscheidungen fördern und Minderheiten respektieren. Menschen, die mitbestimmen können, fördern den Frieden in der Gesellschaft.

Werden Flüchtlinge in die Schweiz kommen?
Ja. Und wir müssen uns bewusst sein, dass wir Teil dieser Welt sind, und unseren Teil beitragen müssen. Wir sollten Fehler der Vergangenheit vermeiden.

Welche Fehler meinen Sie?
Nach der Invasion in Ungarn 1956 war die Schweiz grosszügig. Die Ungarnflüchtlinge und ihre Nachkommen zeigen, dass solche Menschen viel zu unserer Gesellschaft beitragen können. Die Knausrigkeit der vergangenen Jahre gegenüber neueren Flüchtlingen hat unserer Gesellschaft eher geschadet. Wir dürfen zudem die Ressentiments gegenüber Menschen in Russland nicht schüren, denn wir brauchen auch weiterhin Brücken in dieses Land.

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