Mehr Nachwuchs und doch zu wenig Personal
Pflegeberufe werden zum Pflegefall

Seit 2012 ist die Anzahl Pflegende in der Schweiz um fast einen Fünftel gestiegen. Wird weiter so viel ausgebildet, könnte auch der Bedarf der nächsten zehn Jahre gedeckt werden. Und trotzdem droht eine Lücke: Weil zu viele aus dem Beruf wieder aussteigen.
Publiziert: 07.09.2021 um 01:26 Uhr
Gianna Blum

Schon lange vor der Corona-Pandemie hatte die Schweiz ein Problem mit der Pflege. Es hiess Personalmangel – und der war chronisch. Doch es gibt gute Nachrichten: In den letzten Jahren konnte der Bestand an Pflegepersonal deutlich gesteigert werden.

Laut dem am Montag veröffentlichten nationalen Versorgungsbericht gibt es in der Schweiz im Vergleich zu 2012 fast ein Fünftel mehr Pflegepersonal. Im Spitex-Bereich konnte der Personalbestand gar um rund 40 Prozent gesteigert werden. «Die bisherigen Anstrengungen haben sich ausgezahlt», sagt Anne-Geneviève Bütikofer (49), Direktorin des Spitalverbands H+.

Die Lücke bleibt

Und trotzdem besteht immer noch eine Lücke zwischen Angebot und Bedarf. So hat eine Umfrage ergeben, dass offene Stellen erst nach einer gewissen Zeit und nur mit hohem Aufwand besetzt werden können – oft via Personalvermittlungen und mit temporären Mitarbeitenden.

Annelies Neier von der Spitex Region Bern Nord bei Patientin Martha Lehmann. Der Schweiz droht in den kommenden zehn Jahren ein Pflegemangel, prognostiziert der neue Versorgungsbericht.
Foto: Peter Gerber
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Diese Lücke ist bislang mit Personal aus dem Ausland gefüllt worden. So hat fast jede dritte Mitarbeiterin in Spitälern und Pflegeheimen ein ausländisches Diplom. Gerade die Corona-Krise habe die Abhängigkeit vom Ausland deutlich aufzeigt, wie Lukas Engelberger (46), Präsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK), festhält: «Unser Gesundheitswesen ist deswegen verletzlich.»

70'000 Pflegende nötig

Wenig rosig sind auch die Zukunftsaussichten. Bis 2029 braucht die Schweiz rund 70'000 zusätzliche Pflegende, den Grossteil davon mit Hochschul- oder Fachhochschulabschluss. Dieses Ziel wäre, wenn weiterhin viel Energie in die Nachwuchsförderung investiert wird, laut dem Bericht theoretisch erreichbar.

Aber eben: nur theoretisch. Weil viele aus dem Beruf aussteigen oder nach der Ausbildung gar nie darin arbeiten, droht der Personalmangel auch weiterhin. Je nach Ausbildungsniveau könnten ganz praktisch nur 67 bis 80 Prozent der Nachfrage gedeckt werden.

Zu viele Berufsaustritte

Mehr ausbilden tut also not. Nötig seien aber auch Massnahmen, um den Beruf attraktiver zu machen. So sollten Arbeitgeber besser auf Vereinbarkeit von Beruf und Familie achten und beispielsweise «kurzfristig angekündigte Einsätze vermeiden». Es sei an Politik und Behörden, die Rahmenbedingungen zu verbessern und genügend Mittel zur Verfügung zu stellen.

Genau das fordert die Pflege-Initiative, die am 28. November vors Volk kommt. Und trotzdem unterstützen diese weder die GDK noch der Spitalverband H+. Sie machen sich stattdessen für den indirekten Gegenvorschlag des Parlaments stark. Massnahmen wie eine bessere Personaldotierung pro Schicht hätten nichts in der Verfassung zu suchen, argumentiert etwa Bütikofer. Sie seien vielmehr Aufgabe der Betriebe und Sozialpartner.

Mehr Interesse während Corona

Dass wegen Corona nun erst recht mehr Personal den Bettel hinwirft, glaubt Bütikofer nicht. «Wir haben keine Hinweise darauf, dass deutlich mehr Leute den Beruf verlassen haben als in anderen Jahren», sagte sie. Die Anzahl abgeschlossene Ausbildungen habe während Corona sogar noch zugenommen. Das könne damit zu tun haben, dass die Jobsicherheit im Gesundheitswesen hoch ist. Aber auch, dass die Krise ein neues Bewusstsein für die Pflege geweckt habe.


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