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Marco Chiesa tritt im Bundeshaus fast nie ans Rednerpult
Stiller SVPler soll neues Sprachrohr werden

Marco Chiesa hat beste Karten, der nächste SVP-Präsident zu werden. Der Tessiner ist im Bundeshaus bisher kaum aufgefallen. Das kommt manchen nicht ungelegen.
Publiziert: 31.07.2020 um 19:02 Uhr
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Aktualisiert: 08.12.2022 um 06:44 Uhr
Wer folgt auf SVP-Parteipräsident Albert Rösti?
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Ladina Triaca

Marco Chiesa (45) ist ein ruhiger Politiker. Ein sehr ruhiger. In seinen ersten drei Jahren als Nationalrat sprach er gerade mal 27 Minuten am Rednerpult. Zum Vergleich: Chiesas' Parteikollegen Pirmin Schwander (58, SZ), Thomas Aeschi (41, ZG) oder Jean-Pierre Grin (73, VD) kamen auf rund fünf Stunden Redezeit. In einem Ranking des «Beobachters» zur Redezeit von Parlamentariern landete Chiesa entsprechend auf dem viertletzten Platz.

Und nun soll ausgerechnet der Tessiner das neue Sprachrohr der SVP werden! Am Donnerstagabend hat ihn die Findungskommission überraschend als neuen SVP-Präsidenten vorgeschlagen. Das, nachdem zuvor zahlreiche SVP-Vertreter für das zeitintensive Amt abgesagt hatten. Die Parteileitung will nächste Woche über die Kandidatur entscheiden.

Der Nella-Martinetti-Effekt

«Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass so einer Präsident werden könnte», sagt ein Politiker, der mit Chiesa vier Jahre lang in der aussenpolitischen Kommission (APK) sass. Zu Wort gemeldet habe sich Chiesa nämlich auch in der Kommission selten – und wenn, dann praktisch ausschliesslich zum Thema Grenzgänger und Grenzkontrollen in seinem Heimatkanton Tessin.

Gerade mal zwei Vorstösse brachte der SVP-Vizepräsident seit seiner Wahl in den Nationalrat vor fünf Jahren durchs Parlament. Und in der Deutschschweiz sorgte Chiesa erst ein Mal richtig für Schlagzeilen, als er bei den Wahlen im vergangenen Jahr überraschend das Tessiner CVP-Urgestein Filippo Lombardi (64) vom Stuhl drängte und als erster Tessiner SVP-Vertreter überhaupt in den Ständerat gewählt wurde.

Ein umgänglicher und sympathischer Typ sei er, betonen politische Freunde und Feinde durchs Band. So sagt etwa der Solothurner SVP-Nationalrat Christian Imark (38): «Marco Chiesa erinnert mich fast schon an Nella Martinetti (1946–2011). Mit seiner gutmütigen Art und dem Tessiner Akzent könnte er zum Sympathieträger avancieren – innerhalb und ausserhalb der Partei.»

Doch politisch sehen in Chiesa viele einen «Mitläufer», einen «Abnicker». Einer, der stramm auf SVP-Linie politisiert und «Befehle von oben empfängt». Mit «oben» ist in der SVP meistens alt Bundesrat Christoph Blocher (79) und seine Tochter Magdalena Martullo-Blocher (50) gemeint. Und zu dieser scheint Chiesa einen besonders guten Draht zu haben.

Ein Grund dafür liegt in den Bündner Bergen: Chiesa hat ein Ferienhaus in der Lenzerheide, genauso wie Martullo-Blocher. In der Partei erzählt man sich, der Tessiner soll seiner Zürcher Kollegin manchmal sogar Holz zu ihrem Anwesen bringen – und dort den einen oder andern Befehl erhalten.

Viele Einflüsterer

Klar ist: Tritt Chiesa in die Fussstapfen des abtretenden Albert Rösti (52, BE), stehen andere Einflüsterer ebenfalls bereit. So wird der Luzerner SVP-Nationalrat Franz Grüter (57) dem künftigen Präsidenten als Stabschef unter die Arme greifen.

Es scheint auch wahrscheinlich, dass es im SVP-Generalsekretariat – einer wichtigen Schnittstelle zwischen der Parteibasis und der Bundeshausfraktion – zu personellen Änderungen kommen wird. Nicht wenige SVP-Politiker schnöden hinter vorgehaltener Hand schon heute über den amtierenden Generalsekretär Emanuel Waeber (62).

SVP-Nationalrat Roland Rino Büchel (54, SG) – der wie so viele ebenfalls kurzzeitig als möglicher Kandidat gehandelt worden ist – hält Chiesa für einen «interessanten Vorschlag». «Mit Franz Grüter an seiner Seite funktioniert das.» Entscheiden werde letztlich aber die SVP-Delegiertenversammlung am 22. August.

Offen ist, ob Chiesa dann der einzige Kandidat sein wird. SVP-Nationalrat Andreas Glarner (57, AG), der zunächst Interesse am Amt bekundet hatte, zieht seine Kandidatur zurück, wie er gegenüber BLICK sagte. Der zweite offizielle Kandidat – SVP-Nationalrat Alfred Heer (58, ZH) – hat sich noch nicht öffentlich zu seinen Ambitionen geäussert.

Deutsch aufpolieren

Will Chiesa die SVP-Parteibasis restlos von sich überzeugen, tut er allerdings gut daran, in den nächsten Wochen und Monaten seine Deutschkenntnisse aufzupolieren. «Er muss sicher noch einen Intensiv-Deutschkurs machen», sagt ein SVP-Nationalrat. Sonst drohe die Gefahr, dass die SVP ihre Stammwähler im Muotathal oder in Meiringen nicht mehr ansprechen könne.

Im Interview mit dem «Tages-Anzeiger» gibt sich Chiesa denn auch selbstkritisch: «Ich gebe gern zu, dass ich mich in der deutschen Sprache etwas weniger sattelfest fühle als im Italienischen oder im Französischen.»

Dass Stabschef Grüter derzeit die verschiedenen Parteisektionen vom Genfer- bis zum Bodensee abklappert, dürfte Chiesa nicht nur wegen der Sprachkenntnisse entgegenkommen. Er sei wesentlich lieber im Tessin als in Bern, heisst es.

Mit seiner Frau und den beiden Kindern (10 und 12) lebt der ehemalige Leiter eines Alterszentrums in Lugano. Während mehrerer Jahre sass er im Stadtparlament und in der Regierung von Lugano sowie im Kantonsparlament. «Wir haben ehrlich gesagt eher damit gerechnet, dass er nach Lugano zurückkehrt und als Stadtpräsident kandidiert», sagt eine Tessiner Kantonspolitikerin.

Mit oder ohne Lohn?

Damit Chiesa bereit ist, dem Südkanton für längere Zeit den Rücken zu kehren, wird ihn die Partei finanziell entschädigen, vermuten verschiedene SVP-Politiker. Im Gegensatz zu anderen Parteien erhält der SVP-Chef heute nämlich keinen Lohn.

Chiesa selbst gibt sich im «Tages-Anzeiger» zurückhaltend: Es liege bei der Parteileitung, über die Entlöhnung zu entscheiden, sagt er. Ganz schweigen mag er dann aber doch nicht: «Ich war schon immer dafür, dass der SVP-Präsident entschädigt wird. Denn sonst kommen nur reiche Kandidaten für das Amt infrage.»

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