Linke Anliegen im Trend
Aufstand der Gut-Bürger

Ein historisches Ereignis, eine Zäsur für die Schweiz: Wie die Konzernverantwortungs-Initiative die Polit-Landschaft noch lange prägen wird.
Publiziert: 06.12.2020 um 18:48 Uhr
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Aktualisiert: 06.12.2020 um 22:18 Uhr
Camilla Alabor und Sven Zaugg

Die Gelassenheit war rasch verflogen. Manager internationaler Grosskonzerne, bisher gewohnt, die Schweiz wegen tiefer Steuern, guter Universitäten und hoher Rechtssicherheit zu loben, feuerten auf einmal wü­tende Wortsalven ab.

Die orange Welle von Fahnen und Plakaten der Konzernverantwortungs-Initiative (Kovi) setzte ihnen sichtlich zu: «Wir sind doch nicht gegen Menschenrechte!», fluchte ein CEO im Hintergrundgespräch. «Ich fühle mich persönlich angegriffen», klagte ein anderer. So nervös hatte man Vertreter der Wirtschaftselite kaum je zu Gesicht bekommen. Die Schlacht war, bevor sie begonnen hatte, schon fast verloren.

Dass es am Ende anders kam, verdanken die Wirtschaftsverbände weniger der Kraft ihrer Argumente als dem föderalen Polit-System: Die Initiative wurde von 50,7 Prozent der Stimmenden angenommen, scheiterte aber, weil die Mehrheit der Kantone Nein sagte. Was die Wirtschaftsmächtigen nicht wirklich beruhigt haben dürfte. Dass die Initianten eine Mehrheit der Stimmbürger von ihrem Anliegen überzeugen konnten, kommt in der bürgerlichen Schweiz einer Zäsur gleich. Oder, wie es Michael Hermann (49) formuliert: ­einem «historisch einmaligen Ereignis».

Die Konzernverantwortungs-Initiative wurde von 50,7 Prozent der Stimmenden angenommen, scheiterte aber, weil die Mehrheit der Kantone Nein sagte. Beruhigend klingt anders. Denn die Tatsache, dass die Initianten eine Mehrheit der Stimmbürger von ihrem Anliegen überzeugen konnten, kommt in der bürgerlichen Schweiz einer Zäsur gleich.
Foto: Keystone
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Konzern-­Initiative stellt ein Novum dar

Bisher waren Vorlagen aus linksgrünen Kreisen in der Schweiz nie mehrheitsfähig gewesen. «Ausser sie hatten, wie die Alpen- oder Rothenthurm-Initiative, ­einen heimatschützerisch-konservativen Kern», so der Politologe. Die Konzern-­Initiative setzte diese Regel ausser Kraft.

Den Initianten war es gelungen, die Abstimmung zur Grundsatzfrage hochzusti­lisieren: für oder gegen Menschenrechte, für oder gegen Umweltschutz. «Das war mehr als eine Abstimmung; aus der Frage der Konzernverantwortung ist eine Bewegung entstanden», konstatiert Hermann.

Tatsächlich wies das Befürworter-Lager Dimensionen auf, die für schweizerische Verhältnisse äusserst ungewöhnlich sind: rund 10'000 Bürgerinnen und Bürger engagierten sich in 450 Lokalkomitees. 80'000 orange Fahnen flatterten von Balkongeländern und aus Fenstern. Die geballte Macht von 130 Hilfswerken und Vereinigungen hatte das Anliegen auf den Marsch gebracht.

Doch die Breite der Bewegung allein kann ihren Erfolg nicht erklären. Mindestens ebenso wichtig waren zwei weitere Faktoren.

Höchst Professionell

Erstens der hohe Professionalisierungsgrad der Befürworter. Ob es um die Kampa­gnenstrategie ging, um ­Medienarbeit oder um die Betreuung von Freiwilligen: «Die Kampagnenführung der Befürworter hat sich bis zum letzten Tag intensiviert», sagt der Poli­tologe Lukas Golder (45): «Das hat es in dieser Qualität so noch nie gegeben!»

Die ungewohnte Perfor­mance des linken Lagers geht nicht zuletzt auf Da­niel Graf (47) zurück. Der Demokratieaktivist und Kampa­gnenprofi, der ursprünglich mit WeCollect von sich reden machte, einer Plattform für digitale Unterschriftensammlungen, rief vor sechs Jahren das «Campaign Camp» ins Leben – ein Trainingslager für linke Aktivisten, die den Beruf des «Campaigners» erlernen wollen; zu Deutsch: ­eines Kampa­gnenleiters.

Im «Campaign Camp» erlernen Interessierte einerseits handwerkliche Fähigkeiten – wie man Spenden generiert, eine Medienkampagne führt – und andererseits Kenntnisse in Strategie.

Ziel des Trainingslagers ist es, aus Befürwortern aktive Unterstützer zu machen. Und Spendengelder in Millionenhöhe zu generieren. Exakt dieser Stra­tegien bedienten sich auch die Initianten.

Den Nerv der Zeit getroffen

Der zweite Faktor aber, der zum Abstimmungserfolg vom 29.November führte, lässt sich auch mit perfekter Planung nicht herbeiführen: das richtige Timing. Politologe Golder: «Dass eine solche Initiative überhaupt Erfolg haben kann, ist auch dem Zeitgeist geschuldet.»

Nachhaltigkeit und Fairness sind im Trend, während zugleich ein Unbehagen gegenüber den negativen Effekten der Globalisierung besteht. So bilden sich neue Mehrheiten, meint Golder: «Frauen äussern sich heute viel mehr politisch, junge Menschen sind digital vernetzt. Deshalb haben Vor­lagen, welche die Solidarität hochhalten, heute überhaupt eine Chance.»

Just dieser veränderte Zeitgeist könnte ein wesent­licher Grund für das Erwachen der Zivilgesellschaft gewesen sein, für die engagierte Mitwirkung Tausender von Stimmbürgern in ­lokalen Komitees, an Standaktionen, beim Verteilen von Flyern. Rahel Ruch (34), Koordinatorin der Konzern-Initiative, stellt fest: «Viele Leute, die sich für die Kovi engagierten, hatten sich zuvor noch nie politisch betätigt.»

Die Breite der Bewegung, die Professionalität der Kampagnenführung, das nötige Quäntchen Glück – all dies hat augenscheinlich zu einer gewissen Hilflosigkeit auf Seiten der Gegner beigetragen.

Arbeitsplatzverlust zieht nicht mehr

«Die klassischen Argumente – der Zangengriff aus hohen Kosten und Standortnachteil, ja sogar der Arbeitsplatzverlust, der beim Schweizer Stimmvolk ­eigentlich immer verfängt – haben dieses Mal nicht funktioniert», sagt Polito­loge Golder. Die Konzern-Initiative sei ein Indiz dafür, dass sich die Schweiz modernisiere: Weg von der konservativ-ländlich geprägten Gesellschaft hin zur urban-digital vernetzten Gesellschaft.

Die Gewinner indes, gerade noch mit ­einem tiefblauen Auge davon­gekommen, zeigen sich beeindruckt von der Wucht, welche die Ini­tiative entfalten konnte. Michael Wiesner (55) spricht von einer «unheimlich gut angelegten» Kampagne. «Inhalte wie Menschen­rechte und Umweltschutz wurden perfekt auf die Klientel ­zugeschnitten und verbreitet», so der Kommunika­tionschef des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse. «Solche Vorlagen sind heute populär und schwierig zu kontern. Wer ist schon gegen Menschenrechte?»

Der Wunsch nach mehr Solidarität, dem Teilen von Privilegien und dem Wandel hin zu einer nachhal­tigen Wirtschaft – das sind gesellschaftliche Trends, die sich laut Wiesner nicht mehr umkehren lassen. Unternehmen, Parteien und etablierte Verbände haben dem veränderten Zeitgeist Rechnung zu ­tragen.

«Wir müssen in diesen Themen agiler werden», konstatiert Wiesner. Und zwar schnell: linke Basis­bewegungen haben die Kampagnenfähigkeit der Konservativen längst überholt.

Neu war an der Abstimmungskampagne indes nicht nur die Intensität des Meinungsstreits, sondern auch die bissige Schlacht in den Medien, in der sich Gegner und Befürworter nichts schenkten. Lukas Golder sieht darin eine «sehr gefährliche» Entwicklung: «Das Ausmass des ­Onlinecampaigning überstieg in Aggressivität, Kadenz, Fake News und Diffamierung alles, was wir bis anhin gesehen haben.» Dass jeder ver­suche, die Deutungshoheit über den Inhalt einer Vorlage zu gewinnen, liege in der Natur der Sache. «Aber wo ist die Grenze?», fragt Golder.

Anarchie auf den sozialen Medien

Während politische Werbung in Fern­sehen und Radio verboten ist, herrscht auf sozialen Me­dien grenzen­lose Freiheit. «Bis jetzt hat niemand gewagt, den digitalen Raum zu regulieren. Tun wir das nicht, laufen wir Gefahr, dass der politische Diskurs zu einem digitalen Bashing verkommt», sagt Golder. Mehr denn je werde auf den Überbringer der Nachricht geschossen. «Das Volk wird mit Des­informationskampagnen in die Irre geführt.»

Aber kann die Kovi-Kampagne die Schweizer Polit-Landschaft tatsächlich langfristig verändern? Ausgeschlossen ist das nicht.

Nächster Versuch: Gletscher-Initiative

Mindestens eine hängige Vorlage weist auffällige Parallelen zur Kovi auf: die Gletscher-Initiative. So ist deren Forderung nach null CO2-Emissionen bis 2050 sowohl in linken wie bürgerlichen Kreisen abgestützt; breiter noch als die Kovi. Auch trifft die Vorlage offenbar ­einen Nerv in der Be­völkerung, wie das Spendenaufkommen zeigt.

Obschon die ­Abstimmung erst in zwei bis vier Jahren stattfindet, haben die ­Initianten bereits 2019 Spenden in Höhe von rund 750'000 Franken eingenommen. Bezeichnenderweise stammen drei Viertel der Gelder von Privat­personen.

Zudem hat die Gletscher-Initiative gegenüber der ­Kovi-Kampagne einen Startvorteil: Ihre farbigen Fahnen zieren die Balkone seit dem Start der Unterschriftensammlung – und damit früher als je zuvor in einer Abstimmungskam­pagne.

Ob das für ein Ja reicht? Zumindest sind ihre Chancen mehr als intakt. Das ­beweist ein Blick auf die Konzern-Initiative.

Gletscher-Initiative fordert keine CO2-Emissionen mehr bis 2050
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Klimaschutz in die Verfassung:Gletscher-Initiative fordert keine CO2-Emissionen mehr bis 2050
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