Lehren aus dem Ukraine-Krieg
Nationalismus und Aufrüstung sind die falschen Antworten

Im Gastbeitrag erklärt der Historiker Jakob Tanner, warum die Welt mit einem entschlossenen Vorantreiben multilateraler Lösungsansätze auf globaler Ebene besser fährt.
Publiziert: 20.03.2022 um 01:18 Uhr
Jakob Tanner*

Putins Angriffskrieg in der Ukraine ist verheerend und schockierend. Millionen von Menschen sind bereits geflohen, in den grössten Städten des Landes werden überlebensnotwendige Infrastrukturen und Wohnhäuser bombardiert, mit tödlichen Folgen auch für die Zivilbevölkerung. Diese humanitäre Katastrophe steht heute im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit. Und weil der russische Staatschef unverhohlen mit einem Atomkrieg gedroht hat, falls die Nato die ukrainische Armee direkt unterstützen würde, schwebt die Gefahr einer unkontrollierbaren Entgrenzung kriegerischer Gewaltanwendung im Raum.

Eine solche Situation erzeugt Entsetzen und Unsicherheit. Wirtschaftlich hat dies vielfältige Auswirkungen. Während die Aktienkurse von Rüstungsunternehmen durch die Decke schiessen, prognostizieren Beobachter eine globale Ernährungskrise mit millionenfachen Opfern weitab des Kampfgeschehens. Der «Nebel des Krieges», das heisst die Erfahrung, dass der massenhafte organisierte Waffeneinsatz für alle Beteiligten grausame Überraschungen bereithält, trübt auch den Blick auf ökonomische Entwicklungen.
Eine differenzierende Diagnose ist aber dennoch möglich.

Neutralität ist mit Massnahmen vereinbar

Für die internationale Gemeinschaft, wie sie durch die Vereinten Nationen (Uno) repräsentiert wird, ist Druckaufbau gegenüber dem Aggressor wichtig. Neben den USA hat auch die Europäische Union umgehend Sanktionen gegen Russland verhängt. Die Schweiz hat sich diesen, nach einigen Anlaufschwierigkeiten, angeschlossen und damit das Richtige getan. Denn die Sicherheit des kleinen, neutralen Landes ist nur in einem europäischen Zusammenhang gewährleistet. Die Behauptung, diese Massnahmen seien mit der Neutralität nicht vereinbar, ist böse Geschichtsklitterung.

Putins Angriffskrieg in der Ukraine schockiert – und hat weitreichende Folge für die ganze Welt.
Foto: keystone-sda.ch
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Was die Sanktionen in Russland bewirken können, darüber sind die Meinungen geteilt.
Von ihrer Wertschöpfung her liegt die russische Volkswirtschaft hinter Ländern wie Italien, Kanada oder Südkorea. Putin hat sie seit Jahren systematisch auf einen Wirtschaftskrieg vorbereitet. Das Abwehrdispositiv funktioniert allerdings schlecht. Ein ansehnlicher Teil der diversifizierten russischen Zentralbankguthaben wurde eingefroren, Finanzinstitute aus dem Swift-System ausgeschlossen, Exportmöglichkeiten gekappt und der Zugang zu wichtigen Technologiemärkten gesperrt. Der Rubel-Kurs ist im Keller, es zeichnet sich ein harter Staatsbankrott ab. Um die 300 internationale Anbieter und Konsumketten haben sich aus Protest aus Putins Reich zurückgezogen oder dort ihren Betrieb eingestellt. Viele Yachten, Jets und Villen russischer Tycoons sind im Ausland blockiert. Aufgrund anhaltender Energieflüsse und steigender Preise werden zwar nach wie vor täglich Hunderte von Millionen von Dollar und Euro in die russische Kriegskasse gespült, doch damit kann der sanktionierte Staat immer weniger anfangen. Längerfristig wird der Angriffskrieg den wirtschaftlichen Niedergang Russlands beschleunigen.

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Schweiz ist wirtschaftlich in «relativ guter Verfassung»

Die offizielle Schweiz macht sich in wirtschaftlicher Hinsicht auf kurze Frist wenig Sorgen. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) schrieb am Montag in einer Medienmitteilung, der «Ukraine-Konflikt» bremse die konjunkturelle Erholung. Von «Krieg» ist erst später die Rede, die sprachliche Moderation fällt auf. Wir befänden uns, so wird weiter ausgeführt, nach der raschen Entspannung der epidemiologischen Lage in einer «relativ guten Verfassung», und aufgrund der wenig entwickelten wirtschaftlichen Beziehungen mit beiden Ländern würden sich Sanktionen, Lieferausfälle und das Ausbleiben von Touristen nur geringfügig auswirken. So besteht denn auch kein Bedarf an einer Anpassung der Wachstumsprognosen für 2023.

Mit Blick auf die «indirekten Effekte» sieht das Seco die Zukunft weniger rosig. Der «Konflikt» berge nämlich «grosse Risiken für die globale Konjunktur», die wiederum auf die Schweiz zurückwirken könnten. Bei Energieträgern, Grundnahrungsmitteln und Industriemetallen würden sich bereits jetzt starke inflationäre Tendenzen abzeichnen. Zudem hemme die Vorwegnahme weiterer, verschärfter Sanktionen durch die Unternehmen die Investitionsbereitschaft und drücke auf die Finanzmärkte. Wie weit weltwirtschaftliche Kettenreaktionen in Gang kommen und mit welcher Wucht sie hierzulande auf den materiellen Lebensstandard durchschlagen, ist hingegen kaum vorhersehbar.

Trickreiche Aushebelung der Grauzonen rächt sich jetzt

Die Schweiz ist auch erneut als Drehscheibe für Finanz- und Handelstransaktionen in die Kritik geraten. Nach der Krim-Annexion anno 2014 dienten sich Rohstoffhändler, die von Genf, Zug oder dem Tessin aus operieren, russischen Reichen und Staatsunternehmen geradezu an. Die Schätzung, dass knapp vier Fünftel dieser Geschäfte über den neutralen Kleinstaat laufen, ist umstritten, jedoch weit plausibler als stark nach unten korrigierte Zahlen. Überprüfbar ist sie nicht, denn Intransparenz ist in dieser Branche notorisch. Die Family Offices von Schweizer Vermögensverwaltern zogen in den vergangenen Jahren das Geld russischer Oligarchen wie Magnete an. Dass der helvetische Finanzplatz in der Grauzone von formeller Einhaltung und trickreicher Aushebelung der seit 2014 geltenden Sanktionen grenzwertig weit gegangen ist, rächt sich nun für viele Akteure.

Der Höhenflug des Schweizer Frankens signalisiert, dass die Alpenrepublik als «sicherer Hafen» für Vermögende aus autokratischen Regimes besonders unter Krisenbedingungen attraktiv bleibt. Zwar dämpft dies den allgemeinen Preisauftrieb in der importabhängigen Volkswirtschaft etwas ab, dennoch überwiegen die Probleme dieses nationalen Geschäftsmodells. Die Bankgeheimnis-Trutzburg ist längst nicht mehr das, was sie einmal war. Und das Profitieren von korrupten Ausbeutungspraktiken, die in vielen Ländern vorherrschen, lässt sich nicht mehr wie bisher als Privileg eines imaginierten helvetischen «Sonderfalls» verteidigen. Gefordert ist hier die Politik, welche die Schweiz an transnationale Standards heranführen muss.

Was der Krieg mit unserem Kopf macht

Die grosse Frage, die über das Wirtschaftliche hinausgeht, ist die, was das Drama der Gegenwart in unseren Köpfen anrichtet. Aus historischer Sicht macht die Rede von der «Zeitenwende» durchaus Sinn. Die Zäsur, die dieser Angriffskrieg vor allem für Europa bedeutet, darf aber gerade nicht heissen, dass wir nun bereit wären, «in Putins Welt zu leben». Denn diese bietet in keinerlei Hinsicht positive Perspektiven.

Wirtschaftlich gilt es nichtsdestotrotz zu konstatieren, dass sich der optimistische Glaube an einen «Wandel durch Handel» verflüchtigt hat. Die Vision eines friedensstiftenden Weltmarktes nach dem alten Motto «Wo der Kaufmann spricht, schweigen die Kanonen» weicht dem systematischen Verdacht, dass jede wirtschaftliche Abhängigkeit «waffenfähig» gemacht werden kann. In diesen «weaponized interdependencies» erhöht die internationale Arbeitsteilung die eigene Verwundbarkeit und bedroht die nationale Souveränität. Dasselbe gilt für Strategien der monetären Kriegsführung, die in globalen Kreditbeziehungen nicht eine zivilisierende Vernetzung, sondern ausschliesslich eine Kampfvorrichtung sieht.

Multilaterale Lösungsansätze sind gefragt

Für die Schweiz – und nicht nur für sie – lassen sich aus diesen Beobachtungen zwei Schlussfolgerungen ziehen. Zum einen unterminiert diese Entwicklung das traditionelle Konzept der Neutralität, das seit je auf der Fiktion einer Trennbarkeit von Politik und Wirtschaft basierte. Zum andern verläuft diese Umstellung nicht zwangsmässig. Autarkie und Autokratie passen gut zusammen. Es gibt deshalb gute Gründe, an der Vorstellung eines wirtschaftlichen Austausches zum wechselseitigen Vorteil aller Beteiligten festzuhalten. Insbesondere gilt es, jene Kräfte zu bekämpfen, die jetzt auf Putins Logik einsteigen und seinem chauvinistischen Grössenwahn geradezu defätistisch mehr Nationalismus, Protektionismus und Aufrüstung entgegensetzen wollen. Angesagt ist vielmehr ein entschlossenes Vorantreiben multilateraler Lösungsansätze auf globaler Ebene, eine Stärkung der Uno, das Zur-Rechenschaft-Ziehen von Kriegsverbrechern und eine internationale Abrüstung, die Ressourcen freisetzen kann, die anderswo dringend gebraucht werden.

* Jakob Tanner ist emeritierter Professor für Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.

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