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Jetzt rebellieren Jungpolitikerinnen
Chauvinismus im «Stöckli»

Sie werden abgekanzelt, zurechtgewiesen, nicht ernst genommen: Jetzt brechen Ständerätinnen ihr Schweigen über den Chauvinismus im «Stöckli».
Publiziert: 27.09.2020 um 10:55 Uhr
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Aktualisiert: 31.01.2021 um 19:42 Uhr
Camilla Alabor

Es war, nach den Massstäben des Ständerats, ein unerhörter Vorfall. Ein Eklat. Der Rat behandelte die Pestizid-Initiative, als sich die grüne Ständerätin Céline Vara zu Wort meldete. «Wir sind gescheitert», resümierte die 35-Jährige nach einer längeren Rede: Man habe dem Druck der Pestizid-Lobby nachge­geben. Ihr Fazit: «Dieses Parlament schafft es nicht, die Umwelt für künftige Generationen zu schützen.»

Varas Worte kamen bei ihren bürgerlichen männlichen Ratskollegen schlecht an. «Ich spüre von Ihrer Seite eine Aggression uns gegenüber», kanzelte FDP-Politiker Oli­vier Français (64) Vara und ihre ­Parteikolleginnen ab. Diese täten so, «als ob sich heutige und frühere Politiker nicht um die Gesundheit der Bevölkerung scherten». «Persönlich stört mich dieser aggressive Ton.»

Im Ständerat herrscht eine Altherrenkultur

Im Ständerat, dessen Mitglieder sich gerne ihrer gehobenen Debattenkultur rühmen, sorgte Français' scharfe Zurechtweisung für Aufsehen. Und für Diskussionen.

Der Ständerat ist einer der konservativsten Institutionen der Schweiz.
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«Wird man denn nicht gewählt, um seinen Standpunkt einzubringen?», fragten sich Vara und ihre Mitstreiterinnen. Was war falsch daran, sich mit Engagement für eine Initiative einzusetzen? Und was sollte der Ratschlag der Ratskollegen im Laufe desselben Tages, kürzere Reden kämen besser an als der 14-minütige Vortrag, den Vara gehalten hatte? Sprachen denn die Männer nicht genau gleich lang, ja noch länger, ohne dass jemand solche Bemerkungen machte?
Der Vorfall machte sichtbar, was die jungen Kantonsvertreterinnen seit ihrer Wahl im Jahr zuvor immer wieder diskutiert hatten, bisher aber unter dem Deckel geblieben war: Die Tatsache, dass im Ständerat eine ­Altherren-Kultur vorherrscht. Und dass unter den Frauen – auch anderer Parteien – ein Unbehagen herrscht über diese Art, Politik zu machen.

Ältere, konservative Herren

Tatsächlich ist der Ständerat ein Old Boys Club: Die kleine Kammer besteht vornehmlich aus älteren, konservativen Herren, die gerne im kleinen Kreis Hinterzimmer-Deals schmieden. Herren, die gerne eloquente Reden schwingen, aber auch ein gewisses Gockelgehabe an den Tag legen. Wer von dieser Norm abweicht, bleibt aussen vor.

Die Ständerätinnen, mit denen SonntagsBlick für diesen Artikel sprach, zögerten lange, ihre Ansichten öffentlich zu machen. Sie wollten nicht als jene dastehen, die sich beschweren. Nun haben sie sich entschieden, ihr Schweigen zu brechen.
Die grüne Genferin Lisa Mazzone (32) ist eine von ihnen. Sie ist sich als frühere Vizepräsidentin ihrer Partei harte politische Auseinandersetzungen gewöhnt. Trotzdem sagt sie: «Es herrscht im Rat die Erwartung vor, dass Minderheiten – Frauen, Junge, Grüne – nicht zu viel Platz einnehmen.» Zudem habe sie das Gefühl, sie müsse gegenüber gewissen Ratskollegen ihre Anwesenheit im Saal rechtfertigen. «Dabei sind wir alle von unseren Wählern gewählt worden und machen dieselbe Arbeit.»

Céline Vara pflichtet ihr bei. «Es gibt einige Ständeräte, die ein Problem damit haben, wenn eine junge Frau sagt: Mit dieser Meinung bin ich nicht einverstanden.» Es seien nur ein paar wenige, die so ticken würden. «Aber sie beeinflussen die Stimmung im Rat.» Auch komme es immer wieder vor, dass sie mehrmals darum bitten müsse, das Wort zu erhalten, sagt die Grünen-Poli­tikerin. «Ich glaube nicht, dass das extra geschieht. Trotzdem ist es frustrierend.»
Ihre Deutschschweizer Partei­kollegin Maya Graf (58, BL) meint: «Ich finde es unglaublich, dass sich Frauen auch nach 50 Jahren Frauenstimmrecht weiterhin ihren Platz erkämpfen müssen.» Wobei sicher hineinspiele, dass ihre Mitstreiterinnen dreifach in der Minderheit seien: jung, weiblich, französischsprachig.

Für alle Neulinge eine Herausforderung, sich zu etablieren

Tatsächlich dürfte die Sprache mit ein Grund sein, warum sich Vara, Mazzone, aber auch Parteikollegin Adèle Thorens (48, VD) teils übergangen fühlen: Die Mehrheit des Rats besteht aus Deutschschweizern, die längeren Ausführungen auf Französisch nicht immer folgen mögen. Doch das erklärt nicht alles. Graf: «Generell fällt auf, dass die Ständeräte sich in ihren Antworten praktisch nur auf ihre männlichen Vorredner beziehen – aber fast nie auf Ständerätinnen.»
CVP-Ständerätin Andrea Gmür-Schönenberger meint, es sei für alle Neulinge eine Herausforderung, sich zu etablieren. «Aber», sagt sie, «für Frauen ist es schwieriger.» Die Männer würden untereinander Abmachungen treffen; Frauen seien dabei kaum je mit von der Partie. «Oft bekommt man erst in der Kommission mit, wie sich einzelne schon im Vorfeld abgesprochen haben.» Wer sich trotzdem einzubringen versucht, läuft teils gegen eine Wand: «Bei wichtigen Geschäften hat man manchmal das Gefühl, die verschworene Runde zu stören, wenn man eine Frage stellt.»

Und was sagt Ratspräsident Hans Stöckli (68, SP) zur Kritik an der ­Politkultur des Ständerats? Im Bezug auf den konkreten Vorfall mit Céline Vara meint er: Im Ständerat könne jeder so lange sprechen, wie er wolle, «aber man ist gut beraten, dieses Recht klug einzusetzen.» Wer zu lange rede oder – wie Vara – vorbereitete Texte vorlese, die sich eher an die Wähler und weniger an die Ratsmitglieder richteten, verliere an Wirkung. Aber, räumt Stöckli ein: Er habe mitbekommen, dass sich einige Ratsmitglieder daran stossen, «dass offenbar die alteingesessenen Ständeräte weniger auf ihre Voten ein­gehen». Da könne er den Politikerinnen nur empfehlen, die Frauensolidarität wirken zu lassen.

Genau das haben die 12 Stände­rätinnen vor. Am Montag vor zwei Wochen trafen sie sich zum ersten Mal für einen Austausch nur unter Frauen. Um sich besser kennenzulernen. Und um dafür zu sorgen, dass die Voten der Frauen künftig gehört werden. ­Affaire à suivre.

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