Industrieverbände sehen Probleme anderswo als Finanzminister
Kritik fällt auf Maurer zurück

Unserer Wirtschaft drohe der Absturz, wir seien zu «satt», warnt Ueli Maurer. Die Spitzen der Maschinen- und Pharmabranche äussern leise Zweifel. Zentral sind für sie die Beziehungen zur EU. Und dass es um diese schlecht steht, hat der Bundesrat zu verantworten.
Publiziert: 01.02.2022 um 08:35 Uhr
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Aktualisiert: 02.02.2022 um 15:19 Uhr
Sermîn Faki

Da hat Ueli Maurer (71) der Schweiz gehörig den Kopf gewaschen. Es gehe uns zu gut, wir seien «satt», «zufrieden» und hätten nicht gemerkt, was die Stunde schlägt, sagte der Finanzminister im Blick-Interview.

«Was die Schweiz gern unterschätzt: dass andere Länder ihre Rahmenbedingungen laufend verbessert haben. Wir büssen an Vorsprung ein», so der SVP-Bundesrat. Die Welt verändere sich rasend schnell – und die Schweiz schlafe. Das hat laut Maurer Folgen: «Die grossen Industrien sind nicht mehr hier, die grossen IT-Konzerne sind zum Beispiel alle in den USA.»

Spitzenplätze in Rankings

Steht es so schlimm um unser Land oder übertreibt der Magistrat? Schliesslich belegt die Schweiz immer wieder Spitzenplätze in internationalen Rankings. Erst kürzlich kürte uns das Institut der deutschen Wirtschaft zum besten Industriestandort der Welt – vor den USA und Dänemark. Die vermeintliche Industriegrossmacht Deutschland selbst landete nur auf Rang vier.

Ist der Schweizer Wohlstand bedroht? Für SVP-Bundesrat Ueli Maurer sind wir in der Schweiz zu «satt» geworden.
Foto: Keystone
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«Das alte Schreckgespenst der Deindustrialisierung gibt es in der Schweiz nicht», betont auch Stefan Brupbacher (54), Direktor von Swissmem, dem Verband der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie. Die MEM-Betriebe bilden den bedeutendsten Zweig der hiesigen Industrie. Und sie beschäftigen mit 320'000 Mitarbeitenden heute mehr Menschen als vor 20 Jahren. Und sowohl die Wertschöpfung als auch die Produktivität sind gestiegen.

Unser Industriestandort bleibt stark

Dank guter Rahmenbedingungen bleibe «der Industriestandort Schweiz auch künftig stark», ist Brupbacher überzeugt. Er gibt aber zu bedenken, dass unsere Industrie in den letzten Jahren vermehrt im Ausland investiert habe. Aktuell arbeiteten für Tochtergesellschaften hiesiger Industrieunternehmen ausserhalb unseres Landes 560'000 Menschen. «Aus Sicht unseres Werkplatzes ist es wichtig, dass Investitionen künftig auch bei uns erfolgen», so der Swissmem-Direktor.

Auch René Buholzer, CEO des Pharmaverbandes Interpharma, warnt: «Die internationalen Herausforderungen steigen.» Durch Corona hätten viele Länder den Wert einer forschenden Pharmaindustrie entdeckt und arbeiteten entsprechende Strategien für deren Auf- und Ausbau auf. «Da heute über die Investitionen von morgen entschieden wird, muss sich die Schweiz fragen, was sie tun kann, um den Standort für die Zukunft ebenfalls zu stärken.»

Drei Erfolgspfeiler

Zentral sind für Buholzer wie für Brupbacher drei Pfeiler: Forschung und Entwicklung, Marktzugang und Steuern – in dieser Reihenfolge.

Buholzer fordert für die forschende Pharmaindustrie eine umfassende Reformagenda. Es brauche bessere Bedingungen für die klinische Forschung und endlich Fortschritte in der Digitalisierung. «Der Erfolg der Schweizer Pharmabranche wird auch davon abhängen, wie die Branche zu Gesundheitsdaten kommt.» Vergleiche man die Patente auf der Schnittstelle Pharma/Digitalisierung in den USA und in der Schweiz, «drohen wir den Anschluss zu verlieren».

Verhältnis zur EU

Luft nach oben sehen beide Verbände auch beim Marktzugang – also beispielsweise bei der Frage, wie einfach und kostengünstig Produkte und Dienstleistungen ex- und importiert werden können. Hier brauche es Freihandelsabkommen – Swissmem wünscht solche mit den USA und Indien sowie ein Update des Abkommens mit China. Vor allem aber sei ein geregeltes Verhältnis zur EU wichtig.

In Sachen Steuern bereitet den Unternehmen vorwiegend die anstehende OECD-Reform Sorge. Mit dem Ende der Tiefsteuerpolitik verliert die Schweiz einen entscheidenden Standortvorteil – auch wenn die MEM-Branche wegen des hohen KMU-Anteils weniger betroffen sein dürfte. Die Pharma-Riesen umso mehr. In vielen Kantonen werden daher schon Pläne gewälzt, wie gutverdienende Manager dieser Konzerne mit tieferen Einkommens- und Vermögenssteuern geködert werden können.

Für Buholzer stehen Steuergeschenke nicht im Vordergrund. «Wir erwarten von Bund und Kantonen tragbare Lösungen und andere Massnahmen, um die Standortattraktivität hier zu steigern.» Womit man wieder bei Forschung und Entwicklung sowie Marktzugang wäre.

Wer ist schuld?

Für Swissmem-Direktor Brupbacher ist auch klar, was es braucht, um den Anschluss nicht zu verlieren, wie Maurer fordert: «Am wichtigsten wäre es, dass der Bundesrat eine Lösung mit der EU findet – da Marktzugang und Forschung massgeblich davon abhängen.» Und mit dem Problem der Versorgungssicherheit beim Strom komme ein weiteres wichtiges Dossier dazu.

Ironischerweise müssen sich bei diesen Pfeilern unserer Wettbewerbsfähigkeit nicht die Linken oder «das Volk» Versagen vorwerfen lassen. Es war der Bundesrat selbst, der das EU-Rahmenabkommen versenkt hat. Damit hat er sowohl eine Teilnahme der Schweiz am EU-Forschungsprogramm Horizon verhindert als auch die Hürden für den Marktzugang unserer Unternehmen erhöht und Verhandlungen beim Stromabkommen verunmöglicht.

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