Hoher Flüchtlingskommissar Filippo Grandi im Interview
« Die Politik ist unfähig, Lösungen zu finden»

Der Krieg in der Ukraine treibt Millionen Menschen in die Flucht. Der Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge mahnt, andere Konflikte nicht zu vergessen.
Publiziert: 10.07.2022 um 09:30 Uhr
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Aktualisiert: 11.07.2022 um 13:29 Uhr
Interview: Dominik Mate

SonntagsBlick: Herr Grandi, die Zahl der Menschen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Erstmals wurde die Schwelle von 100 Millionen Vertriebenen weltweit überschritten. Machen diese hohen Zahlen Ihre Arbeit nicht zu einer frustrierenden Angelegenheit?
Filippo Grandi:
Es macht meinen Job zu einem anstrengenden Job. Die Frustration kommt von der Schwierigkeit der Politiker, Lösungen für Konflikte und politische Krisen zu finden. Die Flüchtlinge sind das Ergebnis dieser Unfähigkeit, Lösungen zu finden.

Auch die finanziellen Mittel des UNHCR reichen seit Jahren nicht mehr aus, um den tatsächlichen Bedarf zu decken.
Wir erhalten nur die Hälfte von dem, was wir brauchen, um unsere Programme am Laufen zu halten. Wir können also jedes Jahr nur eine bestimmte Anzahl Dinge tun. So müssen wir dem Dringendsten, dem Lebenswichtigsten den Vorrang geben. Das sind schwierige Entscheidungen. Bildung ist ein Menschenrecht und genauso wichtig wie Nahrung oder Wasser – aber wenn man nur genug Geld für zwei von drei Dingen hat, was muss man dann streichen? Wir müssen von Jahr zu Jahr immer schwierigere Entscheidungen treffen.

Mit 100 Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen scheint die Welt ein immer unsichererer Ort zu werden. Steuern wir auf ein neues Zeitalter der Flucht zu, oder erwarten Sie einen Rückgang der hohen Zahlen?
Wir müssen abwarten, wie sich der Konflikt in der Ukraine weiterentwickelt. Wenn eine Lösung gefunden wird, dann wird das hoffentlich alle Staaten ermutigen, auch für andere Konflikte Lösungen zu finden. Aber bin ich da optimistisch? Ich weiss es nicht, es ist schwer vorherzusagen. Im Moment ist die internationale Gemeinschaft sehr gespalten. Die Grossmächte reden nicht miteinander, sondern stehen in gegenseitiger Konkurrenz. Wenn nicht alle Länder zusammenspannen, ist es unmöglich, Lösungen zu finden, und die Zahl der Flüchtlinge wird weiter steigen.

Filippo Grandi ist seit 2016 der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen und setzt sich für das Wohlergehen von über 100 Millionen Flüchtlingen weltweit ein.
Foto: AFP
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Ist die Bereitschaft der europäischen Länder, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen und zu integrieren, in Ihren Augen zufriedenstellend oder können Sie nach fast einem halben Jahr Krieg bereits einen Rückgang der Solidarität feststellen?
Ich sehe keinen Rückgang der Solidarität und keine Ermüdungserscheinungen. Ich war in der ersten Woche der russischen Invasion in Polen – die Solidarität war aussergewöhnlich. Kürzlich war ich in der Tschechischen Republik und die Solidarität war die gleiche. Wir müssen jedoch vorsichtig sein und dafür sorgen, dass die Flüchtlinge tatsächlich Zugang zu allen Dienstleistungen und, wenn möglich, einen Arbeitsplatz bekommen. Und wir hoffen, dass die gleiche Grosszügigkeit Europas auch für andere gilt, nicht nur für die Ukrainer.

Persönlich

Der Mailänder Filippo Grandi (65) wurde 2015 auf Vorschlag von Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon zum Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge gewählt. Der Chef des UNHCR ist seit 27 Jahren für die Vereinten Nationen tätig, unter anderem als Generalkommissar des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA). In seiner aktuellen Tätigkeit setzt er sich für das Wohlergehen von mehr als 100 Millionen Flüchtlingen weltweit ein.

Der Mailänder Filippo Grandi (65) wurde 2015 auf Vorschlag von Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon zum Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge gewählt. Der Chef des UNHCR ist seit 27 Jahren für die Vereinten Nationen tätig, unter anderem als Generalkommissar des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA). In seiner aktuellen Tätigkeit setzt er sich für das Wohlergehen von mehr als 100 Millionen Flüchtlingen weltweit ein.

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Bei der letzten grossen Flüchtlingswelle 2015 und 2016 wollten viele Länder keine grosse Zahl an Flüchtlingen aufnehmen. Damals flohen vor allem Syrer nach Europa. Sind wir einfach rassistisch?
Damals war es ein bisschen komplizierter. Im Jahr 2015 gab es anfangs viel Solidarität. Ich erinnere mich daran, wie warm die Flüchtlinge an den Bahnhöfen empfangen wurden. Aber was dann geschah, war eine unglaubliche Manipulation und Politisierung. Einige Politiker, wirklich Leute ohne jegliches Verantwortungsbewusstsein, sagten: Diese Menschen sind eine Bedrohung, sie kommen hierher und werden eure Arbeitsplätze stehlen, sie werden eure Werte bedrohen und Unsicherheit bringen. Und dieses Narrativ hat sich sehr schnell durchgesetzt und die öffentliche Meinung gegen die Flüchtlinge aufgebracht. Aber das diente den Politikern nur dazu, Wahlen zu gewinnen. Dieses Mal war es für die Politiker schwieriger, die Ukrainer zu kritisieren oder sie negativ darzustellen. Vielleicht hat Europa auch ein instinktives Gefühl der Nähe zu den Ukrainern. Aber es ist wichtig, dass die Politik die Botschaft vermittelt, dass alle Flüchtlinge Aufmerksamkeit und Unterstützung verdienen.

Befürchten Sie, dass andere Konflikte und deren Opfer wegen des Ukraine-Kriegs in Vergessenheit geraten könnten?
Ja. Wir sehen das an unserer eigenen Finanzierung. Die Hilfe für der Ukraine ist gut aufgestellt, aber grosse Operationen in Afrika oder im Nahen Osten sind weniger gut finanziert als im letzten Jahr. Wir haben darum unseren Sponsoren gesagt: Bitte vergesst die andern nicht!

Wie hilft das UNHCR den Flüchtlingen in und aus der Ukraine?
Wir tun zwei Dinge. Wir sind in allen Ländern präsent, die Flüchtlinge unterstützen, vor allem in den Nachbarländern, insbesondere in Moldau und Polen. Dort helfen wir den Regierungen bei der Aufnahme der Menschen, bei der Registrierung, und wir haben ein Programm für die Bedürftigsten und Ärmsten. Wir sorgen dafür, dass die am meisten gefährdeten Personen, wie allein reisende Frauen und Kinder, an das staatliche System verwiesen werden. Ausserdem haben wir mehr als 250 Mitarbeiter in der Ukraine, wo wir den 6,5 Millionen Vertriebenen helfen. An der Konferenz in Lugano haben wir über den Wiederaufbau des Landes gesprochen, auch wenn es vielleicht etwas seltsam erscheint, über den Wiederaufbau zu sprechen, wenn so viel Zerstörung im Gange ist – aber es ist wichtig, vorauszuplanen. Wir versuchen, das Vertrauen in eine positive Zukunft und eine freie Ukraine zu bewahren.

Was ist die wichtigste Aufgabe für das UNHCR in diesem und in den kommenden Jahren?
Allen dabei zu helfen, die anderen Krisen nicht zu vergessen und nach Lösungen zu suchen. Vorletzte Woche besuchte ich die Elfenbeinküste. Ich war dort am Weltflüchtlingstag, dem wichtigsten Tag für das UNHCR. Früher gab es in der Elfenbeinküste 350'000 Flüchtlinge wegen des Bürgerkriegs. Fast alle von ihnen kamen nach dem Krieg zurück und wir haben öffentlich verkündet, dass die Flüchtlingskrise in der Elfenbeinküste erfolgreich beendet wurde. Das ist eine fantastische Leistung, die sehr selten ist. Ich möchte allen zeigen, dass guter Wille, gute Arbeit und die Unterstützung der Regierungen wirklich etwas bewirken können.

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