Harte Asylreform in Europa
Die EU macht dicht – und die Schweiz?

Flüchtlinge ohne Chance auf Asyl sollen bereits an den EU-Aussengrenzen zurückgeschickt werden. Das ist der Kern der EU-Reform. Einige der neuen Massnahmen betreffen auch die Schweiz. Doch manche dürften schwer umsetzbar sein.
Publiziert: 14.04.2024 um 18:26 Uhr
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Aktualisiert: 15.04.2024 um 13:23 Uhr
Noch immer kommen täglich Menschen mit Booten und auf dem Landweg an der EU-Aussengrenze an. Hier auf den Kanarischen Inseln.
Foto: keystone-sda.ch
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Caroline Freigang und Peter Johannes Meier
Beobachter

Die Schweiz ist keine Insel. Wenn es um Migration und Asyl geht, lohnt sich darum ein Blick über die Landesgrenzen. Denn was immer die EU in Asylfragen entscheidet, zeigt hierzulande Wirkung. Etwa wenn die EU plant, ihren Kurs an den Grenzen zu verschärfen. Das tut sie gerade.

Im Dezember haben sich die EU-Länder auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (Geas) geeinigt, vergangene Woche sagte auch das EU-Parlament Ja. Die Reform ist eine Reaktion auf die Flüchtlingswellen von 2015 und 2016. Ziel ist, die EU-Aussengrenzen stärker zu schützen und die irreguläre Migration einzudämmen.

Das Wichtigste: Flüchtlinge ohne Bleibechancen sollen nach Schnellverfahren zurückgeschickt werden. Wer voraussichtlich bleiben darf, soll über einen Solidaritätsschlüssel einem EU-Land zugeteilt werden.

Die Schweiz wird Teile des Paketes übernehmen müssen, weil sie an das Schengen- und Dublin-Abkommen gebunden ist.

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Schnellverfahren an EU-Aussengrenzen

Kern der Asylreform sind Zentren an den Aussengrenzen, in denen Migrantinnen und Migranten ein Screening durchlaufen. Dabei werden sie erkennungsdienstlich erfasst. Dazu gehören Fingerabdrücke und andere biometrische Angaben, die in der zentralen Eurodac-Datenbank der EU gespeichert werden.

Härter soll der Umgang mit Menschen werden, die aus «sicheren» Ländern stammen – und die eine geringe Anerkennungsquote haben. Konkret: eine unter 20 Prozent. Dazu gehören etwa Marokko, Tunesien, Bangladesch oder Pakistan. Gleiches gilt für Personen, die als Gefahr für die öffentliche Sicherheit eingeschätzt werden. Der erste Schnellcheck darf maximal sieben Tage dauern. Wenn das Asylgesuch als unbegründet eingestuft wird, kann die Person sofort zurückgeschickt werden. Wie genau diese Rückschaffungen umgesetzt werden sollen, ist unklar.

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Menschen mit geringen Chancen auf Asyl sollen separiert werden und ein beschleunigtes Verfahren durchlaufen. In den Transitzentren können Migrantinnen und Migranten – wohl unter haftähnlichen Bedingungen – bis zu zwölf Wochen festgehalten werden. Im Ausnahmefall, wenn besonders viele ankommen, können es bis zu 18 Wochen sein.

Die Massnahmen sollen auch abschreckend wirken und von lebensgefährlichen Reisen mit Schleppern abhalten, vor allem über das Mittelmeer. Ob sie realistisch sind und die Migration ohne Chancen auf Asyl reduzieren, ist umstritten.

Sarah Progin, Professorin für Europarecht und Migrationsrecht an der Universität Freiburg, bezweifelt das. Sie hat Forschungsprojekte zum Datenschutz im Migrationsbereich, zum Problem der «Crimmigration» und zum EU-Türkei-Deal geleitet.

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«Es braucht viel mehr Personal.»
Sarah Progin, Migrationsexpertin
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Viele Elemente des Migrationspakts seien schwer umzusetzen, denn die Transitzentren an den Grenzen müssen erst noch gebaut werden. Die bestehenden Flüchtlingslager, etwa das griechische Moria, seien für die Abklärungen nicht geeignet. «Es bräuchte viel mehr Personal, um die neuen Zentren zu betreiben und den Rechtsschutz für die Ankommenden zu sichern», sagt Progin. Die Probleme könnten sich auf Gerichte vor Ort verlagern, die für solche Abklärungen personell nicht ausgestattet seien.

Überhaupt basiere der Pakt auf einer «Fiktion der Nichteinreise», die es rechtlich so nicht gebe. Die Zentren würden zwar an der Grenze, aber auf europäischem Territorium errichtet. «Sobald aber jemand das Territorium eines Staates betritt, ist er auch unter der Hoheit dieses Staates. Dann gilt die Europäische Menschenrechtskonvention, es gelten entsprechende Garantien», so Progin.

Man könne Menschen nicht einfach über Wochen hinweg systematisch in Transitzentren einsperren und sie an der Weiterreise hindern. Besonders Minderjährige nicht. Sie glaubt daher, dass viele Menschen den Zentren ausweichen und wie bisher in andere Länder weiterreisen werden.

Selbst wenn die Zentren einigermassen funktionieren, würde laut Progin ein wichtiges Ziel verfehlt: die Ankunftsländer wie Italien und Griechenland zu entlasten. Wenn man Tausende Leute einsperre, müssten auch entsprechend viele Anträge dort bearbeitet werden.

Für den Basler Maghrebexperten Beat Stauffer sind die EU-Massnahmen nur wirksam, «wenn Migrantinnen und Migranten ohne Bleibechancen auch tatsächlich daran gehindert werden, in der EU Fuss zu fassen, und kein Geld mehr in ihre Heimat schicken können». Stauffer bereist und beschreibt die nordafrikanischen Länder seit über 40 Jahren. Aktuell arbeitet er an einem Buch zur Migrationspolitik.

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«Migranten machen eine Kosten-Nutzen-Rechnung.»
Beat Stauffer, Maghreb-Experte
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«Für Migranten sind die Erzählungen entscheidend, die von Geflüchteten und Aktivisten in Europa über soziale Medien verbreitet werden, oft in Echtzeit.» Aktuell lauteten sie meistens so: Wer es nach Italien schafft, das Flüchtlingslager dort verlässt und in Richtung Norden aufbricht, hat relativ freien Zugang zur gesamten EU. Dort kann er sich irgendwo installieren und relativ bald Geld nach Hause schicken.

Die rund 2000 Franken für die Bootsfahrt über das Mittelmeer plus weitere Schlepperkosten sind meist eine Investition aus dem Umfeld der Familie. «Dieses Geld muss der Flüchtling zurückzahlen. Darum wird es entscheidend sein, ob sich durch den Migrationspakt auch die Erzählungen ändern», sagt Stauffer. Und: «Migranten ohne Chancen auf Asyl machen letztlich eine Kosten-Nutzen-Rechnung. Die kann durch ein Festhalten an den EU-Aussengrenzen durchaus beeinflusst werden.»

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Erweiterte Solidarität

Der EU-Pakt sieht neben den Schnellverfahren auch einen Solidaritätsmechanismus vor. Das Land der ersten Einreise bleibt zwar weiterhin für den Asylantrag zuständig. Die Verteilung der Schutzsuchenden auf die EU-Staaten wird aber neu geregelt. Pro Jahr sollen bis zu 30’000 Menschen umverteilt werden, um die Ankunftsländer zu entlasten. Wenn ein Land keine Flüchtlinge aufnehmen will, wie etwa Ungarn, kann es sich mit 20’000 Euro pro Migranten freikaufen.

Progin stellt in Frage, dass eine solche Umverteilung praktisch umgesetzt werden kann. Besonders Minderjährige könnten nicht einfach in ein anderes Land transferiert werden. Und wenn sich Staaten freikauften, sei den besonders belasteten Ländern auch nicht geholfen.

Dass diese Verteilung fair verlaufen muss, ist für Beat Stauffer entscheidend. Nur dann seien soziale Verwerfungen in Europa zu verhindern. «Deutschland, das bisher am meisten Flüchtlinge aufgenommen hat, zeigt eindrücklich, warum: Der rasante Aufstieg der AfD wird dort als Folge einer zu laxen Flüchtlingspolitik debattiert. Die soziale und die politische Lage sind extrem aufgeheizt.» Mitverantwortlich seien aber auch Ankunftsländer wie Italien oder Durchreisestaaten wie die Schweiz: «Die Flüchtlinge werden dort fast wohlwollend nach Norden durchgewinkt und bleiben dann oft in Deutschland.»

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Milliarden für Drittstaaten

Es werden auch Massnahmen vorangetrieben, die über die beschlossene Asylreform hinausgehen. Vor allem die Auslagerung der Asylverfahren in «sichere Drittstaaten» und die Rückführung von Flüchtlingen in solche Länder. Auf einem Sondergipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs im Februar 2023 wurde zwar ebenfalls vereinbart, das «Konzept sicherer Drittstaaten» vermehrt zu nutzen. Die Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) arbeitet aber erst Leitlinien dazu aus.

Das bekannteste Beispiel für ein Drittstaatenabkommen ist der EU-Türkei-Deal von 2016. Die Türkei wurde von einer Reihe von EU-Ländern als sicherer Drittstaat eingestuft. Flüchtlinge, die via Türkei in die EU gelangen wollten, konnten fortan ohne Prüfung des Asylgesuchs dorthin zurückgewiesen werden.

Die Türkei erhielt im Gegenzug sechs Milliarden Euro für die Verpflegung der drei Millionen Flüchtlinge. Zudem sollten Flüchtlinge aus der Türkei direkt in die EU geholt werden. Der Deal gilt heute als de facto gescheitert. Die EU kritisierte die Türkei, die Grenzen nach Europa wieder geöffnet zu haben und keine Flüchtlinge mehr zurückzunehmen.

Noch mehr Geld – 7,4 Milliarden Euro – soll jetzt Ägypten als Darlehen und in Form von Investitionen erhalten. Im Gegenzug sollen Migranten von der Reise nach Europa abgehalten werden. Dazu hat die EU im März ein Migrationsabkommen vereinbart. Konkret sollen Flüchtlingsboote an der ägyptischen Mittelmeerküste aufgehalten werden, und die Grenze zu Libyen soll abgeriegelt werden.

Grossbritannien versucht derweil, seine Asylverfahren ins ostafrikanische Ruanda auszulagern. In Grossbritannien eingereiste Asylsuchende sollen nach Ruanda geflogen werden. Auch Italien und Albanien haben ein Abkommen geschlossen, mit dem Italien künftig Asylanträge in albanischen Asylzentren abklären lassen kann.

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«Das Recht auf Asyl muss nicht in Europa abgeklärt werden.»
Beat Stauffer, Maghreb-Experte
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In der Schweiz sind ähnliche Forderungen laut geworden. Bisher war der Bundesrat immer gegen Asylverfahren im Ausland, doch zuletzt plädierte Neobundesrat Beat Jans im Ständerat für die Annahme eines Postulats von FDP-Ständerat Andrea Caroni. Es fordert den Bundesrat auf, eine Auslegeordnung zu Asylverfahren und Wegweisungsvollzug in Drittstaaten zu präsentieren. Eine Motion des FDP-Ständerats Damian Müller hatte der Nationalrat im Dezember noch abgelehnt. Sie sah vor, Eritreer in einen Drittstaat zurückzuführen, etwa Ruanda.

Experte Beat Stauffer sieht in Deals mit Drittstaaten einen legitimen Versuch, zu verhindern, dass zu viele Flüchtlinge ohne Bleibechance überhaupt nach Europa kommen. Und zu verhindern, dass sich jemand auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer begeben muss. «Das Recht auf Asyl muss nicht zwingend in Europa abgeklärt werden. Das könnte im Prinzip auch in Marokko, Tunesien oder eben in Albanien geschehen.» Voraussetzung sei die Bereitschaft dieser Staaten, bei einem solchen Versuch mitzumachen. Und die Kosten müssten vollständig zu Lasten der EU gehen. Im Rahmen einer solchen Partnerschaft würden die Drittstaaten auch Kontingente für legale Migration in die EU und weitere Angebote erwarten. Die negativen Seiten dieser Abkommen zeigen sich laut Sarah Progin am Beispiel der Türkei. Präsident Erdogan nutzte das Abkommen wiederholt, um von der EU neue Vorteile für sein Land zu erpressen.

Progin hält solche Deals aus einem weiteren Grund für problematisch. Länder, die Asylverfahren übernehmen, müssten einen funktionierenden Rechtsstaat haben. Das sei häufig nicht der Fall. Man dürfe Menschen nur in Länder schicken, wo sie auch sicher seien, die Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention eingehalten werden. Das sei oft nicht garantiert. «Man kann nicht sicher sein, ob sie nicht doch einfach in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden, wo sie möglicherweise gefoltert werden.» Früher oder später dürften viele Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte landen.

Für Beat Stauffer ist es dagegen denkbar, dass Drittstaaten Asylabklärungen nach europäischen Standards durchführen, obwohl sie diese bei der eigenen Bevölkerung nicht im selben Umfang einhalten. «Dafür bekommen die Länder ja Geld. Zudem sollten die Abklärungen von einer Uno-Institution, zum Beispiel dem UNHCR, überwacht oder gleich selber durchgeführt werden.»

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Bezahlkarten statt Bargeld

Neben schnelleren Verfahren und Abkommen mit Drittstaaten setzen europäische Länder auf weitere Abschreckungsmassnahmen. So hat sich die deutsche Regierung auf die Einführung von Bezahlkarten statt Bargeld für Geflüchtete geeinigt. Damit soll ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt und das Überweisen von Geld in die Herkunftsländer unterbunden werden. Die Wirkung der Massnahme ist allerdings umstritten.

Dennoch gibt es die Forderungen auch in der Schweiz – vor allem von der SVP. Sie will eine Bezahlkarte ähnlich dem deutschen Modell. Das Staatssekretariat für Migration prüft zurzeit, ob ein Bedarf an solchen Debitkarten besteht.

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