Grosser Öffnungsschritt im März kurzfristig gekippt
Deshalb drückte Alain Berset auf die Bremse

Eigentlich hatte Bundesrat Alain Berset im März einen zweiten, grösseren Öffnungsschritt geplant. Im letzten Moment schreckte er aber davor zurück. Weshalb, das zeigen neue Dokumente.
Publiziert: 10.07.2021 um 11:01 Uhr
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Aktualisiert: 10.07.2021 um 15:46 Uhr
Ruedi Studer

Es ist eine ständige Gratwanderung, auf welcher sich der Bundesrat mit seiner Corona-Politik befindet. Auch dieses Jahr: Auf den zweiten Lockdown folgt ein schrittweiser Öffnungskurs, der im März fast zum Absturz führt.

Ein zweiter, grösserer Öffnungsschritt ist bereits angedacht, bevor im Innendepartement von SP-Bundesrat Alain Berset (49) die Stimmung quasi übers Wochenende kehrt. Wegen abrupt steigender Fallzahlen macht sich schon fast Panik breit, wie dem Blick vorliegende Dokumente zeigen. Das Resultat: Mitte März kippt die Landesregierung den angedachten grossen Öffnungsschritt.

Nur eine Woche zuvor tönt es noch ganz anders. In einem vom 11. März datierten vertraulichen Aussprachepapier an den Bundesrat rechnet Berset zwar tendenziell mit einem weiteren Anstieg der Fallzahlen. Dafür machte er einerseits die damals dominierende (britische) Alpha-Variante sowie die zunehmenden Kontakte nach dem ersten Öffnungsschritt Anfang März verantwortlich.

Im März verliefen die Impfungen im Schneckentempo – und die Corona-Fallzahlen stiegen abrupt an.
Foto: Keystone
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Parlament mitschuldig an «Massnahmenmüdigkeit»

Andererseits schiebt er aber auch dem Parlament eine Mitschuld zu, wo sich vor allem SVP und FDP für eine stärkere Öffnung starkmachen. «Auswirkungen einer allfälligen Massnahmenmüdigkeit, die durch die kontroversen Diskussionen im Parlament eher Auftrieb erhalten haben dürften, dürften sich in den Fallzahlen niederschlagen», stellt er fest.

Trotzdem mag der SP-Magistrat da noch nicht auf die Bremse treten. Sein Innendepartement ist der Ansicht, «dass ein zweiter Öffnungsschritt ins Auge gefasst werden kann». Dies, obwohl drei der vier damaligen Richtwerte nicht erfüllt sind. «Vieles deutet auf eine dritte Welle hin», sagt Berset tags darauf vor den Medien, als er das Öffnungspaket bei den Kantonen in Konsultation gibt. Trotzdem hält er die Hoffnung auf weitere Lockerungen aufrecht.

Stimmungswandel zeichnet sich ab

Als er seine Vorschläge kurz darauf in die Ämterkonsultation gibt, zeichnet sich allerdings bereits ein Stimmungswandel ab. Die höheren Fallzahlen seien «besorgniserregend» und vieles deute auf eine dritte Krankheitswelle hin, brachte Berset als «ausdrücklichen Vorbehalt» an. Möglicherweise sei bereits eine Trendwende eingetreten. Daher sei offen, ob der zweite Öffnungsschritt möglich sei – ein Verzicht auf einen nächsten Öffnungsschritt beziehungsweise ein kleinerer Schritt sei angezeigt.

Bereits warnt der Gesundheitsminister vor der Gefahr, dass mit einem weitgehenden Öffnungsschritt «eine Normalisierung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens im Sommer nicht möglich ist» – erst recht, wenn darauf weitere Öffnungsschritte folgen würden.

Doch auch hier: Berset hält vorerst am breiteren Öffnungsschritt fest. Dazu gehören etwa die Öffnung der Restaurantterrassen, öffentliche Veranstaltungen mit bis zu 50 Leuten drinnen oder 150 draussen sowie die Wiedereröffnung von Freizeiteinrichtungen, Museen oder Bibliotheken.

Ämter wollen mehr lockern

In der Ämterkonsultation verzeichnet das Innendepartement grundsätzlich zustimmende Rückmeldungen. Die Stossrichtung des Öffnungspakets wird unterstützt, wobei einige Ämter gar noch weiter vorstossen möchten.

Das Generalsekretariat von SVP-Wirtschaftsminister Guy Parmelin (61) möchte die Homeoffice-Pflicht angesichts der geplanten Testoffensive in eine Empfehlung umwandeln, wie es drei Tage vor der entscheidenden Bundesratssitzung in seiner Stellungnahme schreibt. Beim Präsenzunterricht auf den höheren Schulstufen sollen 50 statt 15 Leute teilnehmen können.

Das Bundesamt für Sport im Verteidigungsdepartement von Mitte-Bundesrätin Viola Amherd (59) wünscht sich zusätzliche Lockerungen im Sportbereich – etwa Wettkämpfe im Freien mit bis zu 150 Teilnehmenden. Das Berset unterstellte Bundesamt für Kultur wünscht höhere Obergrenzen für kulturelle Veranstaltungen – bis zu 300 Leute drinnen und 500 draussen.

Selbst der Koordinierte Sanitätsdienst, welcher die Auslastung der Spitalbetten überwacht, beurteilte den vorgeschlagenen Öffnungsschritt als «prinzipiell sinnvoll und verhältnismässig» – immer unter Vorbehalt der epidemiologischen Lage.

Berset drückt auf die Bremse

Anliegen, auf welche Berset nicht mehr eingeht. Mittlerweile hat der Wind vollends gedreht, die Tonalität verschärft sich weiter. Zwei Tage vor der Bundesratssitzung lässt der SP-Mann während der Corona-Debatte im Nationalrat durchblicken, wohin die Reise geht. Die Regierung sei in der Zwickmühle, sinniert er. «Das Schlimmste wäre, wir würden nun öffnen und müssten dann wieder schliessen.»

Tags darauf drückt Berset auf die Bremse und schickt seinen Gspänli ein vollständig überarbeitetes Antragspapier. Er verlangt, «auf weitergehende Öffnungen zu verzichten». Die Entwicklung der letzten Tage zeige, «dass eine Trendwende in der Pandemie erreicht ist. Die Schweiz steht am Beginn einer dritten Welle.»

Mit weiteren Lockerungen würde diese noch gewichtiger ausfallen, warnt er die Kollegen. Mit ein Grund ist das Schneckentempo beim Impfen: «Der Verimpfungsstand ist zu gering, um einen starken Anstieg der Hospitalisationen und Todesfälle zu vermeiden.»

Berset zitiert «Nature»-Magazin

Berset untermauert seine Befürchtungen mit neuem Zahlenmaterial: Deutlich steigenden Fallzahlen, ein hoher R-Wert von 1,15 und eine – hier verweist er auf einen «Nature»-Artikel – um 50 Prozent höhere Mortalität der britischen Virusvariante in allen Altersgruppen.

«Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass eine zu starke Öffnung dazu führen könnte, dass über die Ostertage respektive Frühlingsferien eine analoge Entwicklung eintreten könnte, wie sie Irland oder Portugal über die Weihnachtstage erlebt haben», mahnt Berset.

Er bringt zudem neue Modellierungen der wissenschaftlichen Covid-Taskforce ins Spiel, welche beim Zuwarten einen grossen Nutzen versprechen: «Die dritte Welle wird kleiner, je länger mit dem nächsten Öffnungsschritt zugewartet wird.» Mit dem Aufschub gewinne auch die Verimpfung an Wirkung. Und er stellt in Aussicht, dass dafür «in ein paar Monaten rascher und umfassender geöffnet werden» könnte.

Auch wirtschaftliche Argumente

Die wirtschaftsfreundlichen Skeptiker versucht Berset mit ökonomischen Argumenten ins Boot zu holen. Er verweist auf Ausführungen der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich, wonach Lockerungsmassnahmen aus wirtschaftlicher Perspektive nur dann zu begrüssen seien, wenn sie nicht wieder zu erneuten Schliessungen führten.

«Erneute Schliessungen sind jedoch aus Sicht des EDI nicht auszuschliessen, wenn nun in der aktuellen fragilen Situation weitere Öffnungen vorgenommen werden», heisst es im Papier dazu.

Zu grosses Risiko

Für Berset ist klar, dass das Öffnungspaket noch nicht geschnürt werden darf. «Das Risiko eines unkontrollierten Anstiegs der Fall-, Hospitalisierungs- und später Todesfallzahlen ist in der aktuellen Situation zu gross», zieht er Fazit. Könne die Entwicklung nicht mehr kontrolliert werden, würde der Bundesrat auch sein Ziel verfehlen, keine erneuten Schliessungen vornehmen zu müssen.

Im Bundesrat setzt sich Berset schliesslich durch. Ein einziges Zückerchen gesteht er dem Lockerungs-Lager zu: Private Treffen im Familien- und Freundeskreis sind drinnen mit zehn statt nur fünf Personen erlaubt.

Der nächste grosse Öffnungsschritt hingegen muss warten. Zu Recht, wie die Entwicklung zeigt: Bis Mitte April steigen die täglichen Fallzahlen auf knapp 2800 an, danach ebbt die Welle langsam ab. Eine Horrorwelle wie im Herbst 2020 mit über 10'000 Fällen kann Berset damit verhindern.

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