Gewerkschafts-Boss Wüthrich macht Zugeständnisse im EU-Poker
«Es können auch fünf Tage sein»

Gewerkschaftsverbands-Chef Adrian Wüthrich findet, die Schweiz sollte nicht bei der EU sondieren, bevor man sich im Inland auf Lösungen geeinigt hat. Und er bietet Hand bei Lösungen zum Lohnschutz.
Publiziert: 06.07.2022 um 00:46 Uhr
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Aktualisiert: 09.06.2023 um 11:42 Uhr
Interview: Pascal Tischhauser

Seit der Bundesrat das Rahmenabkommen mit der EU versenkt hat, kommen die Verhandlungen mit Brüssel nicht in Gang – auch weil die Schweiz nicht weiss, was sie will. Nun bricht Travailsuisse-Chef Adrian Wüthrich (42) ein Tabu und bietet Hand zu einer Lösung: Mit der Verkürzung der Voranmeldefrist auf fünf Tage könnte er leben. Heute müssen EU-Firmen, die Angestellte für Aufträge in die Schweiz senden, dies acht Tage im Vorfeld anmelden. Bis jetzt hatten sich die Gewerkschaften geweigert, eine andere Frist zu nennen.

Blick: Herr Wüthrich, Mitte-Chef Gerhard Pfister kritisiert die EU-Politik des Bundesrats. Man könne nicht gleichzeitig im In- und Ausland sondieren. Erst müsse man sich bei uns klar werden, welche mehrheitsfähigen Lösungen man Brüssel anbiete. Hat er recht?
Adrian Wüthrich: Ja, genau diese Vorgehensweise hätte der Bundesrat konsequent weiterverfolgen müssen. Travailsuisse ist erstaunt darüber, dass die Landesregierung nun erneut auf den Insta-Weg umgeschwenkt ist – der bekanntlich in eine Sackgasse führte.

Was ist falsch gelaufen?
Das ist die Frage! Anfangs hatte der Bundesrat mit der Einsetzung des früheren Staatssekretärs Mario Gattiker seinen Fahrplan gut aufgegleist. Die Regierung wollte die heiklen Punkte im Inland ausdiskutieren und Lösungen haben, bevor man wieder zur Europäischen Union fliegt. Dazu hatte Herr Gattiker als Kenner der Materie selbst Vorschläge erarbeitet. Doch dann hat sich der Bundesrat anders entschieden.

Verbandschef Adrian Wüthrich findet, erst müsse man Lösungen im Inland finden, dann erst kämen Verhandlungen mit der EU.
Foto: Keystone
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Man ist wieder in einer Sackgasse, weil sich niemand bewegt.
Nein, weil wir die Lösung längst bekannter Probleme nicht vereint angehen. Die EU stört sich an manchen flankierenden Massnahmen, mit denen wir unsere Löhne und Arbeitsbedingungen sichern. Jetzt sollten wir Alternativen aufzeigen, die den Lohnschutz mindestens halten, besser noch erhöhen, was deren Akzeptanz im Inland steigern würde. Die Gewerkschaften sind bereit, über die 8-Tage-Regel für europäische Firmen zu reden.

Sie wollen den Schutz vor Dumping aufgeben?
Eben nicht! Aber wir haben immer signalisiert, dass wir zu Konzessionen bereit sind, solange man nicht am heutigen Lohnschutzniveau rüttelt. Der Bund ist daran, die technische Voraussetzung zu schaffen, um die Kontrollen in kürzerer Frist zu ermöglichen. Es können auch fünf Tage sein, wenn das System sich bewährt.

Die Nummer eins der Nummer zwei

Adrian Wüthrich (42) ist Präsident des Gewerkschaftsdachverbands Travailsuisse, der mit 150'000 Mitgliedern zweitgrössten Dachorganisation der Arbeitnehmenden. Zum Verband gehören unter anderem die Gewerkschaft Syna und der Personalverband Transfair. Der Berner sass für die SP im Nationalrat. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Adrian Wüthrich (42) ist Präsident des Gewerkschaftsdachverbands Travailsuisse, der mit 150'000 Mitgliedern zweitgrössten Dachorganisation der Arbeitnehmenden. Zum Verband gehören unter anderem die Gewerkschaft Syna und der Personalverband Transfair. Der Berner sass für die SP im Nationalrat. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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In der «NZZ» fordert Pfister eine Garantie für die Einhaltung des Lohnschutzes und unserer Arbeitsbedingungen. Er spricht Ihnen aus dem Herzen.
Ich bin sicher, er spricht einer Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer aus dem Herzen. Aber natürlich ist es ein vordringliches Ziel der Sozialpartner, die flankierenden Massnahmen abzusichern, damit der Europäische Gerichtshof sie nicht kassieren kann.

Darüber streiten wir mit der EU

Der Bundesrat will den bilateralen Weg absichern und mit der EU eine Einigung erzielen, um neue Marktzugangsabkommen abschliessen zu können.

Jahrelang hatte die Landesregierung mit Brüssel deswegen über ein Rahmenabkommen verhandelt – unter der Federführung von Aussenminister Ignazio Cassis (61) hiess es plötzlich Institutionelles Abkommen (Insta).

Weil immer klarer wurde, dass das Insta in der Schweiz niemals mehrheitsfähig wäre, besiegelte der Bundesrat am 26. Mai 2021 dessen Ende.

Hauptsächlich in drei Punkten bestanden grosse Differenzen mit Brüssel. Erstens beim Schweizer Lohnschutz, zweitens bei der Unionsbürgerrichtlinie, die zu Einwanderung in die Schweizer Sozialwerke geführt hätte, und drittens bei den staatlichen Beihilfen, wegen denen man Probleme bei staatlich dominierten Unternehmen befürchtete.

Daneben hatte man in weiten Teilen der Schweizer Bevölkerung Angst, dass das Insta das Ende der direkten Demokratie bedeutete, da im Streitfall der Europäische Gerichtshof (EuGH) das letzte Wort hätte. Zudem störten sich viele daran, dass künftig EU-Recht «dynamisch» – also quasi automatisch – nachvollzogen werden sollte.

Der Bundesrat will den bilateralen Weg absichern und mit der EU eine Einigung erzielen, um neue Marktzugangsabkommen abschliessen zu können.

Jahrelang hatte die Landesregierung mit Brüssel deswegen über ein Rahmenabkommen verhandelt – unter der Federführung von Aussenminister Ignazio Cassis (61) hiess es plötzlich Institutionelles Abkommen (Insta).

Weil immer klarer wurde, dass das Insta in der Schweiz niemals mehrheitsfähig wäre, besiegelte der Bundesrat am 26. Mai 2021 dessen Ende.

Hauptsächlich in drei Punkten bestanden grosse Differenzen mit Brüssel. Erstens beim Schweizer Lohnschutz, zweitens bei der Unionsbürgerrichtlinie, die zu Einwanderung in die Schweizer Sozialwerke geführt hätte, und drittens bei den staatlichen Beihilfen, wegen denen man Probleme bei staatlich dominierten Unternehmen befürchtete.

Daneben hatte man in weiten Teilen der Schweizer Bevölkerung Angst, dass das Insta das Ende der direkten Demokratie bedeutete, da im Streitfall der Europäische Gerichtshof (EuGH) das letzte Wort hätte. Zudem störten sich viele daran, dass künftig EU-Recht «dynamisch» – also quasi automatisch – nachvollzogen werden sollte.

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Sie wollen den Fünfer und das Weggli: die Teilnahme am EU-Binnenmarkt, sich aber nicht den Binnenmarktregeln unterstellen.
Die Schweiz will weder der EU beitreten noch sich mit Nachteilen beladen, die bei uns nie und nimmer mehrheitsfähig wären. Da muss man aufrichtig sein. Oft heisst es: «Das kriegt man in Brüssel nie durch.» Für uns aber ist zentral: Nur so, wie wir etwas vorschlagen, hat das in der Schweiz bei einer Abstimmung eine Chance!

Glauben Sie wirklich, dass man den EuGH aussen vor lassen kann?
Wenn wir Lohnschutzregeln einführen, die EU-konform sind und die der EuGH nicht aushebeln kann, geschieht das. Und ja, bei gewissen Abkommen kann die Rechtsanpassung dynamisch erfolgen. In einem Nicht-EU-Land wie der Schweiz ist bei der Personenfreizügigkeit der automatische Rechtsnachvollzug aber nicht mehrheitsfähig. Der Bundesrat hatte dies erkannt und darum beim Insta die Notbremse gezogen.

Und dazu soll Brüssel Ja sagen?
Zeigt die Schweiz der EU auf, dass wir ihre Bedenken aufnehmen und spezifische Lösungen anbieten, wird sie uns nicht die Türe vor der Nase zuschlagen. Wir haben im Grenzgebiet schon viele pragmatische Lösungen gefunden. Die EU hat doch zuallererst ein Interesse daran, dass ihre Probleme mit uns gelöst werden.

Jetzt scheint man wieder als Bittsteller nach Brüssel zu pilgern.
Nein, die Schweiz ist nicht Bittstellerin, sondern Verhandlungspartnerin. Die EU hat ihre Interessen, wir haben unsere. Aber mein Eindruck ist, dass eine Vermischung stattfindet. Man sondiert in Brüssel und fragt nebenbei nach, was hierzulande genehm wäre. Dabei müssen wir bei der EU sagen können: «Zu dieser Schweizer Gesetzesänderung haben wir uns entschieden. Sie ist EU-konform, weil sie in jenem oder diesem EU-Land längst in Kraft ist. Und hier haben wir einen Vorschlag, mit dem EU-Arbeitskräfte in der Schweiz unseren Bürgern bei den Sozialsystemen gleichgestellt werden.»

Mit Letzterem sprechen Sie das Thema Unionsbürgerschaft an, die EU-Bürgern den Zugang zu unseren Sozialwerken ermöglicht.
Die Einwanderung von Ausländern in die Sozialwerke darf nicht sein, aber wer hier arbeitet, soll auch geschützt sein. Dies entspricht unserem Verständnis. Es war falsch, die Unionsbürgerschaft beim gescheiterten Rahmenabkommen aussen vor zu lassen. So bestand die Gefahr, dass wir sie schleichend übernehmen müssen. Mit der Begrenzung des Geltungsbereichs auf Arbeitskräfte bestünde das Risiko nicht mehr. Und es gäbe eine Chance auf eine Mehrheit beim Volk. Für eine Lösung müssen sich aber beide Seiten entgegenkommen.

Sind Ihre Vorschläge mit den Arbeitgebern abgestimmt?
Beim Insta sahen Arbeitgebervertreter wie auch die Gewerkschaften den Schutz vor Lohndumping in Gefahr. Aktuell haben wir uns noch nicht auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt. Wir stehen aber alle hinter den bilateralen Verträgen und sind uns beim Ziel einig: Der Schutz muss bleiben.

Hat der Bundesrat den Austausch mit den Sozialpartnern hier nicht gesucht?
Wir sind häufig im Austausch mit Bundesratsmitgliedern – so auch zur Europapolitik. Wir konnten unsere Standpunkte einbringen. Ich würde mir wünschen, dass die Landesregierung vereint und energisch darauf drängte, dass wir uns im Inland auf tragfähige Lösungen verständigen, die wir in Brüssel präsentieren können.

Will der Bundesrat denn überhaupt Verhandlungen vor den Wahlen 2023?
Das weiss ich nicht. Wir stellen uns diese Frage auch. Aber die Sondierungsgespräche laufen. Und die EU muss auch bereit sein, auf die Vorschläge einzutreten.

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