Frank A. Meyer – die Kolumne
175 Jahre

Publiziert: 01.01.2023 um 00:59 Uhr
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Frank A. MeyerPublizist

Vielleicht bedarf es der Nachdenklichkeit eines Poeten, um zu verstehen, was gerade geschieht. Peter Bichsel (87) antwortete auf die Frage der «Neuen Zürcher Zeitung», ob er sich noch mit Politik beschäftige: «Ja, es interessiert mich natürlich sehr und betrübt mich ausgesprochen. Das zunehmende weltweite Desinteresse an Demokratie. Der Untergang des Liberalismus. Das Ende der amerikanischen Revolution. Mit anderen Worten: Das Ende des Freisinns.»

Peter Bichsel – der Sozialdemokrat, der enge Freund und Berater des Sozialdemokraten und Bundesrats Willi Ritschard – beklagt «das Ende des Freisinns»?

Auch die Interviewer der «NZZ» wunderten sich: «Das ist erstaunlich, Sie sind doch Sozialdemokrat?» Darauf der Dichter: «Ja, die Sozialdemokraten sind aber auch Kinder des Liberalismus, auch Kinder der Revolution.»

Frank A. Meyer

Die Besorgnis des grossen alten Literaten wirft ein Licht der Melancholie auf das festliche Jahr, das heute beginnt: 1848 – vor 175 Jahren – siegte in der Schweiz die freisinnige Revolution und schuf den modernen Bundesstaat.

Freisinn im Wortsinn!

Was war das? Was ist das? Es bedeutet, errungen und entwickelt und erprobt, die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger – Demokratie und Rechtsstaat, gelebt als politischer Alltag.

Deshalb ist Freisinn im Wortsinn weit mehr als Freisinn im Parteisinn. Der revolutionäre Begriff «Frei-Sinn» ist der Ur-Sinn freiheitlichen Denkens, dessen sich alle freiheitlich gesinnten Strömungen des Landes bemächtigten, bis die Schweiz schliesslich zur Nation freisinniger Parteien wurde – streitend vereint im ständigen historisch-familiären Disput.

Seither ist man gegen den Freisinn, weil man freisinniger ist als der Freisinn.

Das herausragendste Beispiel dafür ist die Arbeiterbewegung: Sie zwang den Wirtschaftsfreisinn zur sozialen Revolution – zur sozialen Marktwirtschaft. Und machte aus dem Proletariat des 19. Jahrhunderts die Arbeitnehmer-Bürgerschaft des 20. Jahrhunderts. Die säkularisierten und freisinnig inspirierten Christdemokraten fügten der helvetischen Politik zudem christliche Sensibilität hinzu, ein Verständnis für politische Kultur auf christlicher Grundlage.

Freisinn ist das Schlüsselwort für Politik als Freiheit – getreu dem Diktum der Freiheits-Philosophin Hannah Arendt, wonach die Freiheit der Sinn aller Politik zu sein hat.

Und das ist es, was Peter Bichsel, Autor von «Des Schweizers Schweiz», überzeugter Patriot und daher notorischer Aufbegehrer, den heutigen «Kindern der Revolution» zu sagen hat. Wenn freisinniger Geist als geistige Heimat verstanden wird, schweizerisch und grenzenlos zugleich, dann ist Bichsel zutiefst Heimatschriftsteller.

Was den Deutschen 1848 in der Frankfurter Paulskirche misslang – den Schweizern gelang es: am 12. September 1848.

Was aber heisst «den Schweizern»? Dem Freisinn ist dieses historische Meisterstück zu verdanken. Woraus 175 Jahre später das Erbe abzuleiten wäre, ein Auftrag für alle Demokraten in diesem Land: Motor zu sein eines geistigen, eines kulturellen Freisinns, der erneut alle erfasst – über sämtliche Parteigrenzen hinweg.

Um zu verhindern, was Peter Bichsel befürchtet: den «Untergang des Liberalismus. Das Ende des Freisinns».

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