«Die Hausärzte müssen wir schützen»
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FMH-Präsidentin Yvonne Gilli:«Der neue Tarif ist sehr kostenbewusst»

FMH-Präsidentin Yvonne Gilli (65) über steigenden Gesundheitskosten
«Ich verstehe den Generalverdacht gegen Ärzte nicht»

Dass im Gesundheitswesen die Kosten zunehmen, sei grundsätzlich kein Problem, findet Ärzte-Präsidentin Yvonne Gilli. Das Problem liege darin, wie die Ausgaben finanziert seien.
Publiziert: 11.07.2022 um 09:32 Uhr
Sermîn Faki und Gianna Blum

Werden es fünf Prozent oder gar zehn Prozent? Klar ist: Nächstes Jahr steigen die Krankenkassenprämien wohl happig. Kein Wunder, wird in der Politik heftig über die Gesundheitskosten gestritten. Und keine Lobby stellt sich dort im Moment derart quer wie jene der Ärzteschaft.

Blick: Frau Gilli, gehts in der Gesundheit eigentlich immer nur ums Geld?
Yvonne Gilli: Natürlich nicht. Aber aus der politischen Warte ist der finanzielle Aspekt einer der wichtigsten. Und das auch zu Recht, schliesslich geht es um Steuergelder und Prämien.

Den Ärzten geht es aber schon ums Geld. Mitte-Präsident Gerhard Pfister nannte das Gesundheitswesen ein «Paradies für Geldgierige». Verstehen Sie die Kritik?
Herr Pfister ist ein Profipolitiker. Dass er zuspitzt, um Aufmerksamkeit für die Kostenbremse-Initiative seiner Partei zu erzeugen, ist verständlich. Ich glaube aber, dass auch Herrn Pfister die Qualität der Gesundheitsversorgung so viel wert ist wie ihr Preis.

FMH-Präsidentin Yvonne Gilli verteidigt den Tarif. Vor allem die Hausärzte müsse man schützen.
Foto: Nathalie Taiana
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Aber stimmt es denn nicht: Seit Jahren beklagen alle die hohen Prämien. Reformen aber werden immer von irgendeiner Interessengruppe blockiert – aus Angst, dass das eigene Stück vom Kuchen kleiner wird.
Im Gesundheitswesen rechnet man pro Jahr mit zwei bis drei Prozent Kostenwachstum. Und das ist gut so, denn das liegt auch am Wachstum der Bevölkerung und besseren Therapien. Im ambulanten Bereich, der über die Krankenkassenprämien finanziert wird, haben wir kein Kostenproblem, sondern ein Finanzierungsproblem. Die Frage ist: Wie verteilen wir die Kosten so, dass wir einerseits die Qualität aufrechterhalten, andererseits aber die Einkommen der Bevölkerung nicht zu sehr belasten?

Diese Finanzierung hängt auch vom Tarif ab, über den die Ärzte abrechnen. Der Vorschlag von FMH und Krankenkassenverband Curafutura war dem Bundesrat zu teuer. Auch Sie wollen ein möglichst grosses Stück vom Kuchen.
Das stimmt so nicht. Der Bundesrat hat lediglich in Zweifel gezogen, dass der Tarif kostenneutral umgesetzt werden kann. Jetzt müssen wir beweisen, dass das möglich ist.

Allerdings wird das Nein unter anderem damit begründet, dass sich der Tarif an den Löhnen von Chefärzten und Spitalkadern orientiert – den besten Löhnen im Spital. Das versteht nun wirklich niemand.
Der Tarif ist betriebswirtschaftlich berechnet. Wenn man den Lohn tiefer berechnet, heisst das, dass gewisse Leistungen nicht mehr kostendeckend erbracht werden. Und die Saläre orientieren sich an der Verantwortung, die ein selbständiger Arzt hätte, wenn er im Spital geblieben wäre.

Die selbständigen Ärzte nagen nicht am Hungertuch. Ein Chirurg etwa verdient im Schnitt 300'000 Franken pro Jahr.
Bei den Hausärzten liegt der Medianlohn aber bei 160'000 Franken im Jahr. Die eine Hälfte der Ärzte verdient mehr, die andere weniger als das. Und die Hausärzte müssen wir schützen, denn ihre Leistungen sind am kosteneffizientesten. Natürlich muss man über den Preis einer Leistung auch reden, aber ich glaube, die meisten Patienten und Patientinnen mögen ihrer Ärztin einen Lohn gönnen.

Um die Kosten zu dämpfen, diskutiert das Parlament auch über Kostenziele. Wieso wehren Sie sich so stark dagegen, dass man sagt: Nächstes Jahr erwarten wir diese oder jene Gesundheitskosten, und wenn es mehr ist, müssen wir reagieren?
Vorab: Kostenziele gibt es im Gesundheitswesen ständig. Was die Politik aber will, sind Ziele für die Gesamtkosten auf nationaler Ebene, die politisch festgelegt werden. Damit man die dafür nötigen Daten überhaupt zusammentragen kann, ist ein riesiger Verwaltungsapparat nötig.

Der Gedanke dahinter ist aber doch, unnötige Leistungen zu vermeiden.
Das macht man mit einem nationalen Kostenziel aber niemals! Wir wollen doch wissen, ob eine Leistung auch qualitativ gerechtfertigt ist. Nehmen wir zum Beispiel eine Hüftoperation: Dort braucht es eine hohe Indikationsqualität, ich muss also belegen, dass es dem Patienten oder einer Patientin ohne Operation schlechter gehen würde. Darauf müssen wir achten! Mit Kostenzielen bestrafen wir nur jene, die auch am meisten Kosten verursachen, nämlich die chronisch kranken Patientinnen und Patienten.

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Aber vielleicht wäre es dem Patienten auch ohne Operation besser gegangen. Es braucht doch irgendeine Kontrollinstanz, die das überprüft. Oder einen Anreiz, um zu verhindern, dass Ärzte mehr machen, als nötig ist und so die Kosten in die Höhe treiben.
Ich verstehe diesen Generalverdacht nicht, dass Ärzte ihren Job nicht gut machen! Die meisten wollen ihren Patienten helfen. Es gibt sehr viele Instrumente, aber man kann nicht einfach ein Misstrauensvotum über alle verhängen und dann glauben, dass das bessere Ärztinnen und Ärzte gibt!

Ein Bericht vor einigen Jahren hatte gezeigt, dass bis ein Fünftel der Kosten eingespart werden könnten, wenn unnötige Eingriffe vermieden würden.
Der Bericht wird gern zitiert, aber da geht es ums ganze System, nicht nur um die ärztlichen Leistungen. Dass ein komplexes System immer wieder optimiert werden muss, bestreiten wir nicht. Schauen wir doch mal, was Luft im System überhaupt heisst: Wir waren als Gesellschaft bereit, Milliarden von Schulden auf uns zu nehmen, um während der Pandemie Betten frei zu halten.

Oberste Ärztin

Im Februar 2021 trat Yvonne Gilli (65) ihr Amt als erste Präsidentin des Berufsverbands der Schweizer Ärzte (FMH) an. Er zählt 42'000 Ärztinnen und Ärzte zu seinen Mitgliedern. Gilli ist Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin, zudem hat sie Ausbildungen in klassischer Homöopathie und traditioneller chinesischer Medizin absolviert. In ihrem Wohnort Wil SG arbeitet sie als Hausärztin. Zwischen 2007 und 2015 war sie Nationalrätin der Grünen. Sie ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.

Nathalie Taiana

Im Februar 2021 trat Yvonne Gilli (65) ihr Amt als erste Präsidentin des Berufsverbands der Schweizer Ärzte (FMH) an. Er zählt 42'000 Ärztinnen und Ärzte zu seinen Mitgliedern. Gilli ist Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin, zudem hat sie Ausbildungen in klassischer Homöopathie und traditioneller chinesischer Medizin absolviert. In ihrem Wohnort Wil SG arbeitet sie als Hausärztin. Zwischen 2007 und 2015 war sie Nationalrätin der Grünen. Sie ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.

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Diskutiert werden auch Kostenziele, die nicht einmal konkrete Massnahmen nach sich ziehen, sondern bei denen die Tarifpartner einzig erklären müssen, warum die Kosten eben doch mehr gestiegen sind als erwartet. Auch das passt Ihnen nicht. Warum?
Haben Sie schon einmal politische Massnahmen gesehen, die keine Folgen hatten? Entweder man hat ein striktes Kostenziel, und damit spart man, macht aber Abstriche bei der Qualität der Patientenversorgung, oder man hat es nicht – und das führt dann zu hohen Verwaltungskosten ohne sonstigen Gewinn.

Wo wäre denn die Ärzteschaft bereit, bei der Kostendämpfung zu helfen?
Es braucht Anreize, um die Qualität der Behandlung zu verbessern. Damit werden auch Spitalaufenthalte verhindert und die ambulante Behandlung gefördert. Wichtig ist auch, die Kompetenzen der Patienten und Patientinnen zu stärken.

Zum Schluss noch kurz zur Pandemie. Die FMH empfiehlt nun in den Praxen wieder Maskenpflicht. Ist die Sommerwelle schon ernst?
Die FMH kann nur Empfehlungen machen, keine Pflichten aussprechen. Die Kompetenz für verpflichtende Vorgaben bleibt bei Bund und Kantonen. Wir merken, dass es mehr Erkrankungen gibt, für die meisten sind sie aber harmlos. Wenn ich chronisch kranke Menschen behandle, sind gewisse Massnahmen sinnvoll. Daher empfehlen wir das Tragen einer Schutzmaske im direkten Patientenkontakt. Die Empfehlung ging aber bewusst nur an unsere Mitglieder. Es liegt letztlich im Ermessensspielraum der Ärztin oder des Arztes, wie diese umgesetzt wird.

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