Flüchtlingspolitik und Euro-Frage
«Merkel hat die Briten in den Brexit getrieben»

Der EU-Parlamentarier und Eurokritiker Hans-Olaf Henkel attestiert seiner Heimat Deutschland einen Schuld­komplex mit fatalen Folgen.
Publiziert: 04.09.2016 um 00:00 Uhr
|
Aktualisiert: 04.10.2018 um 21:14 Uhr
Interview: René Lüchinger und Iris Mayer, Fotos: Philippe Rossier

BLICK: Herr Henkel, «Deutschland gehört auf die Couch!» ist der Titel Ihres neuen Buchs. Seit wann ist Deutschland ein Fall für Sigmund Freud?
Hans-Olaf Henkel:
Ich stelle mir schon lange die Frage: Warum lässt sich Deutschland so viel gefallen? Unsere Gesellschaft ist von einem Rettungssyndrom befallen. Deutsche Politiker erwarten, dass die Gräuel der Nazizeit durch eine überlegene moralische Haltung kompensiert werden müssen. Seit Freud weiss man, dass Erkenntnisse der Psychoanalyse auch auf ganze Gesellschaften angewandt werden können. Der Patient Deutschland muss sich von diesem Schuldkomplex lösen und aufhören, moralische Interessen über die Vernunft zu stellen.

Sie machen das Rettungssyndrom vor allem an der Flüchtlingspolitik fest.
Das Helfersyndrom erstreckt sich auf noch viel mehr Bereiche. Wir Deutschen sind ja seinerzeit die Ersten gewesen, die das Weltklima retten wollten. Angela Merkel ist auch beseelt von der Vorstellung, sie müsse den Euro retten, weil sie überzeugt ist: Scheitert der Euro, scheitert Europa. Dabei geht es den Ländern, die den Euro nicht haben, viel besser. Die Kanzlerin ist auch der Meinung, dass die sichersten Kernkraftwerke der Welt abgeschaltet werden müssen. Wir sind nun von weniger sicheren AKW abhängiger als vorher. Diese Haltung zieht sich durch viele Bereiche der Politik und findet ihren Höhepunkt in der Flüchtlingspolitik.

Sie haben doch selbst die Gegenbewegung mitbegründet, die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD)!
Ich habe diese Partei unterstützt, ja. Aber ich habe sie wie viele andere auch wieder verlassen, weil sie zu ­einer deutschen Version des französischen Front National abgerutscht ist. Damit war sie faktisch tot und kam nur wegen Merkels Flüchtlingspolitik wieder auf die Beine.

Der EU-Parlamentarier und Eurokritiker Hans-Olaf Henkel.
Foto: PHILIPPE ROSSIER
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Hätte Merkel denn die Flüchtlinge einfach wieder zurückschicken sollen?
Sie sagte kürzlich, seit dem Abkommen mit der Türkei seien nur sieben Menschen in der Ägäis ertrunken. Durch diese Aussage hat sie doch zugegeben, dass erst durch ihre Politik Zehntausende in Gefahr geraten sind. Wie viele vorher wegen der Willkommenspolitik ertrunken sind, weiss keiner. Merkel hätte sich vor einem Jahr an das Dublin-Abkommen halten müssen. Aber sie hat es gebrochen. Und die Folgen konnte sie nicht absehen. Aus dem griechischen Flüchtlingslager Idomeni kamen später viel schrecklichere Bilder als aus Budapest. Und was hat Merkel da gemacht? Nichts! Diese Art von Politik wird weder von der deutschen Bevölkerung noch von den europäischen Nachbarn verstanden. Es gibt keine einzige europäische Regierung, die sie unterstützt. Sie hat nur ein paar Politiker in der Europäischen Kommission auf ihrer Seite, die Merkel ihren Job verdanken, wie zum Beispiel Jean-Claude Juncker.

Welche Medizin verordnen Sie?
In der Flüchtlingspolitik schlagen wir eine atmende Obergrenze vor. Die deutschen Kommunen sollen entscheiden, wie viele Flüchtlinge zu ihnen kommen. Dann ist die Bereitschaft und Kapazität aller Städte und Gemeinden, Flüchtlinge aufzunehmen, praktisch die deutsche Obergrenze, die sich aber verändern kann. Sie wäre basisdemokratisch unterlegt und würde auch die Bereitschaft und Fähigkeit zur Integration befördern. Das ist angelehnt an die Schweiz mit ihrer stärker basisdemokratischen Verfassung. In diesem Punkt sollte Deutschland von der Schweiz lernen.

Und welches Rezept ­haben Sie für den Euro?
Angela Merkel hat sich mit dem Euro in die Lage gebracht, als potenziell grösste Gläubigerin den anderen Ländern ständig Vorschriften machen zu müssen. Den Spaniern sagt sie, ihr müsst jetzt den Arbeitsmarkt liberalisieren, die Franzosen sollen ihre Staatsausgaben drosseln, Finanzminister Schäuble will, dass die Griechen ihre Eisenbahn privatisieren... Das geht nicht. Merkel ist ja nicht von den Wählern dieser Länder gewählt worden, sondern von den Deutschen. Wir brauchen eine andere Euro-Politik. Entweder sorgt Deutschland dafür, dass andere Länder aus dem Euro aussteigen oder Deutschland verlässt den Euro. Im Übrigen war es auch Merkels Euro- und Flüchtlingspolitik, welche die Briten in den Brexit getrieben hat.

Die Briten wären Ihrer Meinung nach geblieben, hätte die Abstimmung früher stattgefunden?
Absolut. Ich habe im Europa-Parlament sowohl mit «Remainern» wie «Brexitern» gesprochen. Am Schluss war in Grossbritannien nur noch die Rede von Zuwanderung. Auf diesem Gebiet ist Merkel den Briten keinen Millimeter entgegengekommen. Das hat sich gerächt. Bei Griechen, Franzosen oder Spaniern hat sie vorher immer nachgegeben. Diese fehlende Flexibilität trieb die Briten aus der EU. Das ist ein massiver Kollateralschaden ihrer Flüchtlingspolitik.

Merkel ist die Schuldige für alles?
Nicht für alles, und sie macht auch nicht alles falsch. Der deutsche Patient ist schon länger krank. Aber viele Entscheide, die wir in dem Buch «Deutschland gehört auf die Couch!» kritisieren, fallen in ihre Regierungszeit. Teilweise leidet die deutsche Gesellschaft an Schizophrenie. Erst haben sich alle im Gefühl der moralischen Überlegenheit gesonnt, nun wollen die meisten keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen. Eine Mehrheit will den Euro behalten, ihn aber nicht retten. Das passt nicht zusammen. Und hätte Deutschland über die Frage Euro oder D-Mark abstimmen dürfen, wäre der Euro nie gekommen.

Der Euro sichert den ­Frieden – ein starkes ­Argument für ein Land, das im vergangenen Jahrhundert zwei Weltkriege angezettelt hat.
So argumentieren Politiker, wenn sie mit ihrem ökonomischen Latein am Ende sind. Ich habe meinen Vater im Krieg verloren, bin als Kind zweimal ausgebombt worden und weiss es zu schätzen, dass nun seit 70 Jahren Frieden herrscht. Das haben wir aber nicht dem Euro, sondern den ­Demokratien in Europa zu verdanken. Noch nie hat eine Demokratie eine andere angegriffen. Entscheidend ist für mich, dass wir die Demokratie in Europa erhalten und sie überall einfordern. Dass der Euro den Frieden sichert, ist einfach falsch. Im Gegenteil: Der Euro sät zunehmend Zwietracht in der EU und bedroht den Frieden Europas eher, als dass er ihn ­sichert.

Wie meinen Sie das?
Im Jahre 2010 war Deutschland in Griechenland das angesehenste Land Europas, heute muss Merkel
von Tausenden Polizisten geschützt werden, wenn sie dort auftaucht. Das deutsch-französische Verhältnis ist zerrüttet wie nie. Das liegt ausschliesslich am Euro. Denn hinter diesen Zwistigkeiten verbergen sich immer finanz- und fiskalpolitische Meinungsunterschiede. Deshalb gilt für mich: Scheitert der Euro nicht, scheitert die EU. Um Europa zu retten, brauchen wir auf keinen Fall mehr ­Europa.

Sondern?
Weniger Europa. Weniger Harmonisierung. Weniger Zentralisierung. Wir müssen zurück zum Europa der Vaterländer. Die EU sollte nur das machen, was sie besser kann als jedes einzelne Land. Das Problem in der Politik: Um am Einheits­euro festzuhalten, verletzt sie die Regeln, die sie selbst aufstellt. Der Erste, der in Deutschland die Maastricht-Regeln gebrochen hat, war Gerhard Schröder zusammen mit dem Franzosen Jacques Chirac, als die beiden die Drei-Prozent-Klausel als Obergrenze für die Neuverschuldung geknackt haben.

Was schlagen Sie vor?
Jeder kehrt zu seiner Währung zurück. Das ist nicht risikolos, und der Weg ist lang. Aber es geht. Es gab noch nie einen Währungsverbund, der Bestand gehabt hätte. Ohne Ausnahme sind alle wieder verschwunden. Die Rückkehr zur natio­nalen Valuta müsste freilich in einer organisierten und kontrollierten Weise geschehen.

Also Rückwärtsgang rein – und alles ist gut?
Eine eigene Währung diszip­liniert ein Land auf allen Ebenen – die Schweiz ist das beste Beispiel dafür. 17 Aufwertungen gab es insgesamt in der Zeit der D-Mark. Jedes Mal war es ein Schock und jedes Mal haben wir uns am Riemen reissen müssen, um den Anschluss nicht zu verpassen. Diese disziplinierende Wirkung ist mit dem Euro weg. Deswegen verliert die deutsche Wirtschaft dramatisch an Produktivitätsvorteilen.

Persönlich

Hans-Olaf Henkel (76) wuchs als Halbwaise in Hamburg (D) auf. Nach kaufmännischer Lehre bei Kühne & Nagel machte er bei IBM Karriere und war von 1995 bis Ende 2000 Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Er ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Morgen erscheint sein Buch «Deutschland ­gehört auf die Couch».

Hans-Olaf Henkel (76) wuchs als Halbwaise in Hamburg (D) auf. Nach kaufmännischer Lehre bei Kühne & Nagel machte er bei IBM Karriere und war von 1995 bis Ende 2000 Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Er ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Morgen erscheint sein Buch «Deutschland ­gehört auf die Couch».

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