FDP-Ständerat Philipp Müller (67) fordert zum Abschied
«Schafft das Rentenalter ab!»

Er hat einige letzte Kommissionssitzungen, dann ist Philipp Müllers Zeit als Parlamentarier vorbei. Der Aargauer Ständerat verlässt Bundesbern aber nicht, ohne den Politikern noch einen Tipp zu geben.
Publiziert: 29.09.2019 um 23:10 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2019 um 06:41 Uhr
Interview: Pascal Tischhauser

Seine letzte Session ist vorbei. BLICK trifft den abtretenden FDP-Ständerat Philipp Müller (67) im Restaurant Galerie des Alpes im Bundeshaus. Wie immer trägt der gelernte Gipser Anzug und Krawatte. Der frühere Parteipräsident scherzt mit Serviceangestellten und grüsst andere Politiker. Nach 16 Jahren im Parlament kennen ihn hier alle, nennen ihn beim Vornamen. Philipp Müller mag zwar nicht mehr Politiker sein. Dennoch spricht der Aargauer leidenschaftlich gerne über seine Arbeit in Bundesbern – viel lieber als über sich selbst.

BLICK: Herr Müller, ist Ihnen die Politik verleidet?
Philipp Müller: Nein, aber nach zwölf Jahren im National- und vier im Ständerat habe ich es gesehen. Wenn man in Routine verfällt, ist es Zeit, anderen Platz zu machen. Das gilt nicht nur für mich.

Es sollten noch andere den Sitz räumen?
Ich nenne keine Namen, auch wenn mir welche einfallen. Einfach nur dasitzen und das Taggeld kassieren sollte niemand.

Ständerat Philipp Müller hört auf. Nach vier Jahren im Ständerat und zuvor zwölf im Nationalrat zieht er sich aus der Politik zurück.
Foto: Keystone
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Müssten auch FDPler gehen, etwa Kurt Fluri? Er hat mit Ihnen angefangen.
Für Freisinnige gilt das natürlich nicht (lacht). Und Kurt Fluri käme mir zuletzt in den Sinn. Er ist einer der Fleissigsten – und es gelingt ihm noch immer, die SVP auf die Palme zu bringen.

Wie das?
Erinnern Sie sich nicht an seinen Spruch, er schalte bei gewissen SVP-Voten sein Hirn ab und stelle die Ohren auf Durchzug? Es geht ja nicht nur ihm so. Eigentlich war die SVP mal unsere Verbündete. Jetzt driften wir in der Europa-Frage immer weiter auseinander, weil die SVP die Bilateralen kündigen will. Um mit der Tonalität eines gewissen SVPlers zu sprechen: «Zwischen der FDP und der SVP liegen heute in der Europa-Frage Ozeane.»

Das muss Sie ja nicht mehr kümmern. Sie gehen in Rente.
Ich denke nicht daran, in Rente zu gehen. Ich wechsle bloss meinen Job und bin wieder als Generalbauunternehmer tätig. Dieses Privileg habe ich, weil ich nicht Arbeitnehmer bin. Angestellte haben hingegen häufig Mühe, einen Job zu finden, wenn sie mit über 50 ihre Stelle verlieren.

Wegen der hohen Lohnnebenkosten.
Auch! Als man die Pensionskasse 1985 einführte, wollte man den Älteren mit einem höheren Beitragssatz von 18 Prozent entgegenkommen, damit sie noch Alterskapital ansparen können. Bei den Jungen beträgt der Satz 7 Prozent. Die unterschiedlichen Sätze waren damals richtig, heute nicht mehr. Jetzt braucht es für alle die gleichen. Sozialminister Berset muss endlich handeln, statt Hasenfussvorlagen zu bringen.

Aber das kostet.
Kosten uns Arbeitslose und Frührentner etwa nichts? Wie will man jemals eine Mehrheit für eine Rentenaltererhöhung hinbekommen? Zu Recht sagt die Bevölkerung Nein, wenn man das Pensionsalter heraufschrauben möchte, solange schon 50-Jährige grosse Schwierigkeiten haben, eine Stelle zu finden. Aber ohne Rentenaltererhöhung kostet uns die AHV-Sanierung viele Milliarden.

18-Prozent-Müller, Lucky Luke, Rennfahrer

Der heute 67-jährige Philipp Müller hatte früh das verschuldete Gipsergeschäft seines Vaters übernehmen müssen. Er baute es zum erfolgreichen Generalunternehmen um. Als Rennfahrer war er Europameister im Tourenwagenfahren, als Kunstschütze zog er fast schneller als sein Schatten. Der breiten Öffentlichkeit wurde er bekannt, als er im Alleingang eine Initiative zur Beschränkung des Ausländeranteils auf 18 Prozent lancierte. Der Vater dreier Töchter ist zum zweiten Mal verheiratet. Er sass von 2003 bis 2015 im Nationalrat, danach vier Jahre für den Aargau im Stöckli. Ab Frühling 2012 war er für vier Jahre FDP-Chef.

Der heute 67-jährige Philipp Müller hatte früh das verschuldete Gipsergeschäft seines Vaters übernehmen müssen. Er baute es zum erfolgreichen Generalunternehmen um. Als Rennfahrer war er Europameister im Tourenwagenfahren, als Kunstschütze zog er fast schneller als sein Schatten. Der breiten Öffentlichkeit wurde er bekannt, als er im Alleingang eine Initiative zur Beschränkung des Ausländeranteils auf 18 Prozent lancierte. Der Vater dreier Töchter ist zum zweiten Mal verheiratet. Er sass von 2003 bis 2015 im Nationalrat, danach vier Jahre für den Aargau im Stöckli. Ab Frühling 2012 war er für vier Jahre FDP-Chef.

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Sie glauben also, mit gleichen Pensionskassenbeiträgen wäre das Problem vom Tisch?
Das alleine genügt nicht. Es braucht jetzt einen grossen Wurf: Man könnte beispielsweise das Rentenalter total flexibilisieren oder gleich ganz abschaffen!

Wie bitte?
Warum sollen ein Maurer und ein Bürolist im selben Alter aufhören müssen? Warum muss eine topfitte Frau gleichzeitig mit einer gesundheitlich angeschlagenen in Rente gehen? Sollen solche, die mit 16 in die Lehre kamen und seit da gearbeitet haben, und jene, die nach dem Studium erst mit 30 eine bezahlte Stelle annahmen, zum selben Zeitpunkt in Pension gehen müssen? Man muss das alles endlich hinterfragen. Auch Überlegungen zu einer «Lebensarbeitszeit» gehören dazu.

Wie stellen Sie sich das vor?
Man könnte beispielsweise ein Mindestrentenalter festlegen und ab dann den effektiven Feierabend individuell ausgestalten. Ich habe in diesem ehrwürdigen Bundeshaus erlebt, dass ein fitter, fleissiger Verwaltungsangestellter mit enormem Wissen mit 62 Jahren zwangspensioniert wurde. Suchen wir doch nach einer Lösung, mit der man seinem Beruf nachgehen kann, solange man möchte. Jeder muss selbst wissen, ob er beispielsweise mit 63 oder einige Jahre später einen neuen Lebensabschnitt beginnt. Denken wir mal das Unmögliche und setzen zu einem Befreiungsschlag an.

Warum haben Sie nie einen entsprechenden Vorstoss eingereicht?
Weil Sozialpolitik nicht mein Ding ist. In meinen 16 Parlamentsjahren sass ich nie in der zuständigen Kommission, sondern bemühte mich, bei Finanz- und Wirtschaftsthemen sowie in der Aussenpolitik fit zu sein. Aber quer denken muss erlaubt sein. Es hat ja genügend Bedenkenträger, die alles wieder zerreden.

Bevor Sie abtreten, kommen wir noch zu Ihrer Nachfolgerin. War es richtig, dass Petra Gössi auf den Greta-Zug aufsprang?
Goldrichtig. Als Volkspartei müssen wir wichtige Anliegen der Bevölkerung aufnehmen. Entscheidend ist, was dann umgesetzt wird. Und nun schauen Sie mal, wie das CO2-Gesetz im Ständerat dank den Freisinnigen herauskam. Die FDP löst ihr Klimaversprechen ein.

Um Ihre Wahlwerbung zu bremsen: Im Dezember verwässerte die FDP das CO2-Gesetz bis zur Unwirksamkeit.
Das ist alter Kaffee. Die Gletscher schmelzen weg. Der Klimawandel trifft uns massiv. Wir können uns nicht bei der Frage aufhalten, wie gross der Anteil der Menschheit am Klimawandel sei. Faktum ist: Die Menschen haben einen entscheidenden Anteil daran. Basta! Es muss gelingen, den CO2-Ausstoss zu drosseln. Das hat der Ständerat aufgegleist, jetzt ist der Nationalrat gefordert.

Nochmals zu Ihnen. Was wird Ihnen aus der Parlamentszeit besonders in Erinnerung bleiben?
Die für mich spannendste Legislatur 2007 bis 2011, in die die Finanzkrise fiel. Damals kamen die grossen Finanzkapitäne in die Wirtschaftskommission. Angesichts der enormen volkswirtschaftlichen Gefahr wirkten sie absolut hilflos. Viele Kommissionsmitglieder haben deshalb den Respekt sehr rasch verloren. Und jetzt haben wir wieder einen unschönen Fall am Paradeplatz.

Sie meinen die ...
... die CS, natürlich. Da wird öffentlich ganz schmutzige Wäsche gewaschen, und das Ansehen des gesamten Finanzplatzes leidet.

Haben die Banken nichts gelernt?
Doch, schon. Man darf nicht alle in denselben Topf werfen. Aber es war die Politik, die dafür sorgen musste, dass die Kapitalisierung der Geldinstitute besser wird. Dass es die Banken derzeit nicht leicht haben, daran sind sie nicht selbst schuld, sondern das kommt davon, dass die Zinswelt kopfsteht. Das hat uns die europäische Zentralbank eingebrockt.

Bleiben wir bei Ihnen: Wie war es, FDP-Präsident zu sein?
Das Amt kennt keine Ruhe. Das waren vier sehr intensive Jahre. Sie sind sieben Tage die Woche und 24 Stunden am Tag Parteichef. Zehnmal die Stunde läutet das Telefon. Und man liest seinen Namen laufend in der Zeitung. Anfangs wurde ich hochgeschrieben, dann kritisiert. Dann kam der Wahlerfolg, und schon war wieder alles anders. Die Journalisten sind halt auch nur Menschen.

Waren wir viel zu brav mit Ihnen?
Gefühlt das Gegenteil! Ich denke, letztlich überwog eine immense Freude über den Stimmengewinn. Als Parteichef arbeiten Sie jahrelang auf den Wahltermin hin. Sie haben zwar kantonale Wahlen und lassen Umfragen machen, aber das Einzige, was wirklich zählt, ist der Tag der eidgenössischen Wahlen. Wir waren sehr gut unterwegs – dann kam im Juli 2015 die grosse Flüchtlingswelle und wir mussten zusehen, wie unsere Prozentwerte bröckelten und jene der SVP stiegen. Man chrampft und chrampft, und alles schien plötzlich für die Katz. Und dann am Wahltag – wow! – wir waren gar nicht so schlecht, wir haben um 1,3 Prozentpunkte zugelegt.

Jetzt, wo Sie ja gehen, können Sie aus dem Nähkästchen plaudern. Als Parteichef waren Sie nahe am Bundesrat. Er war nicht sehr stark, oder?
In meiner Zeit im Parlament habe ich ganz unterschiedliche Bundesräte gesehen. Wenn Alphatiere wie Pascal Couchepin und Christoph Blocher aufeinandertreffen, ist das natürlich herrlich. Aber es gab auch Phasen, da hatte man das Gefühl, die Schweiz hätte ein besseres Bundesratskollegium verdient. Doch auch im Parlament sitzen ja nicht nur kleine und grosse, dicke und dünne, sondern auch gescheitere und dümmere Politiker.

Ist der Anteil der Dummen im National- oder im Ständerat grösser?
Das müssen Sie Gescheitere fragen (lacht). Ich kann nur sagen, der Umgang im Stöckli ist mehr ein Miteinander als in der grossen Kammer. Selbst nach zwölf Jahren im Nationalrat wusste ich nicht von allen 199 anderen den Namen. Im Stöckli kannte ich die Leute nach einer Session. Auf Ende Legislatur gehen auch einige andere. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, Tschüss zu sagen.

Unser Problem mit der Rente

Der Bundesrat ist dabei, das Rentenalter der Frauen auf 65 Jahre zu erhöhen. Bürgerliche Politiker fordern gar, das Rentenalter für alle auf 67 Jahre festzusetzen. An der Urne haben Rentenaltererhöhungen einen schweren Stand. 2017 scheiterte die Altersvorsorge-2020-Vorlage von Bundesrat Alain Berset (47). Sie hätte ein einheitliches Rentenalter gebracht, mehr Geld für die AHV und tiefere Pensionskassenrenten, die mit 70 Franken mehr AHV für Neurentner ausgeglichen worden wären. Doch welsche Linke, die keine Erhöhung des Frauenrentenalters akzeptierten, und Bürgerliche, denen die 70 Franken mehr AHV zu viel waren, versenkten die Vorlage.

Die BDP will als Ausweg das Rentenalter nun der steigenden Lebenserwartung anpassen. Denn immer weniger Junge müssen für immer mehr Pensionäre bezahlen. Allerdings gibt es Anzeichen, dass die Lebenserwartung bald stagnieren könnte. Und: Zwar gehen die geburtenstarken Jahrgänge bis 1964 bald in Pension, doch Prognosen zeigen, dass sich das Babyboomer-Problem nach 2040 abschwächt.

FDP-Müller will den gordischen Rentenknoten jetzt mit der Abschaffung des fixen Rentenalters zerschlagen. Selbstverantwortlich soll jeder für sich selbst entscheiden, wann er in Pension geht – oder ob er es sich leisten kann und will. (pt)

Der Bundesrat ist dabei, das Rentenalter der Frauen auf 65 Jahre zu erhöhen. Bürgerliche Politiker fordern gar, das Rentenalter für alle auf 67 Jahre festzusetzen. An der Urne haben Rentenaltererhöhungen einen schweren Stand. 2017 scheiterte die Altersvorsorge-2020-Vorlage von Bundesrat Alain Berset (47). Sie hätte ein einheitliches Rentenalter gebracht, mehr Geld für die AHV und tiefere Pensionskassenrenten, die mit 70 Franken mehr AHV für Neurentner ausgeglichen worden wären. Doch welsche Linke, die keine Erhöhung des Frauenrentenalters akzeptierten, und Bürgerliche, denen die 70 Franken mehr AHV zu viel waren, versenkten die Vorlage.

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